BFH V. Senat
FGO § 93 Abs 1, FGO § 76 Abs 2, FGO § 104 Abs 1 S 1, GG Art 103, FGO § 96 Abs 2, ZPO § 227 Abs 1 S 2 Nr 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, UStG § 15 Abs 1 Nr 1
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 17. Januar 2011, Az: 5 K 5186/10
Leitsätze
NV: Da die mündliche Verhandlung zur abschließenden Erörterung der Sachlage und Rechtslage bestimmt ist, kann der fristgemäß geladene Beteiligte nicht darauf vertrauen, dass eine mündliche Verhandlung vertagt wird, um ihm Gelegenheit zu weiteren Ermittlungen oder zur Vorlage weiterer Belege zu geben, für die er bei hinreichender Vorbereitung hätte Vorsorge treffen müssen. Lehnt das FG unter diesen Umständen eine Vertagung ab, liegt keine Überraschungsentscheidung vor .
Tatbestand
I. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) änderte die auf geschätzten Besteuerungsgrundlagen beruhenden Umsatzsteuerbescheide für 2005 und 2006, nachdem der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger), ein Steuerberater, im Einspruchsverfahren im Februar 2010 Umsatzsteuererklärungen für diese Streitjahre abgegeben hatte. Mit den Abhilfebescheiden vom 15. April 2010 folgte das FA den Erklärungen des Klägers. Den hiergegen erhobenen Einspruch wies das FA, weil der Kläger den Einspruch nicht begründet hatte, als unbegründet zurück. Im Klageverfahren lud das Finanzgericht (FG) am 30. November 2010 zur mündlichen Verhandlung auf den 18. Januar 2011. Am 13. Januar 2011 beantragte der Kläger die Verlegung des Termins. Dies lehnte das FG am 14. Januar 2011 per Telefax ab, weil ausreichende Verhinderungsgründe weder dargelegt noch glaubhaft gemacht worden seien. Zugleich teilte es mit, der Kläger könne die Akten nach Terminabsprache mit der Geschäftsstelle im Gericht einsehen. Die am 14. Januar 2011 beantragte Versendung der Gerichtsakten "an den Wohnsitz" lehnte das FG unter Hinweis auf die bevorstehende mündliche Verhandlung ab und verwies erneut auf die Möglichkeit der Akteneinsicht bei Gericht.
In der mündlichen Verhandlung überreichte der Kläger die vom 25. August 2010 datierte, beim FG nicht eingegangene Klageschrift sowie "Kontennachweise zum Wertübergabeprotokoll Umsatzsteuer für 2005 und 2006" mit dem Antrag, die Umsatzsteuer unter Berücksichtigung der aus den Kontennachweisen ersichtlichen Vorsteuerbeträge zu berücksichtigen; die bisher erklärte Vorsteuer sei um 1.944,32 € (2005) und 90,28 € (2006) zu gering. Ausweislich des Sitzungsprotokolls erklärte der Kläger, "die Rechnungen, aus denen der Vorsteuerabzug begehrt werde, habe er nicht dabei".
Das FG wies die Klage mit der Begründung ab, der Kläger, der für das Vorliegen der Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug (§ 15 des Umsatzsteuergesetzes ‑‑UStG‑‑) die objektive Beweislast trage, habe die Rechnungen, aus denen er den Vorsteuerabzug geltend mache, nicht vorgelegt.
Der Kläger begehrt die Zulassung der Revision wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Das Gericht habe die eingereichten Ergebnisse der Finanzbuchhaltung nicht zur Kenntnis genommen und er sei durch die Forderung, sämtliche Rechnungen vorlegen zu müssen, überrascht worden. Weder das FA noch das FG hätten zu Erkennen gegeben, dass die sachliche Richtigkeit der Buchführung in Frage gestellt werde. Hätte das FG ihn aufgefordert, die Rechnungen vorzulegen, wäre das Urteil anders ausgefallen. Außerdem sei das rechtliche Gehör dadurch verletzt worden, dass ihm die am 20. Dezember 2010 beantragte Akteneinsicht in ein Gericht an seinem Wohnsitz nicht ermöglicht worden sei.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde hat keinen Erfolg, weil Zulassungsgründe entweder nicht i.S. des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ordnungsgemäß dargelegt worden sind oder nicht vorliegen.
Die Revision war nicht wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO zuzulassen.
1. Ein Verstoß gegen Art. 103 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO durch eine Überraschungsentscheidung liegt nicht vor.
a) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist eine Überraschungsentscheidung gegeben, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt gestützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der auch ein kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht rechnen musste (z.B. BFH-Urteil vom 23. Februar 2000 VIII R 80/98, BFH/NV 2000, 978). Das Gebot, rechtliches Gehör zu gewähren, verpflichtet das Gericht andererseits aber nicht, den Beteiligten die für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte anzudeuten und sie mit ihnen umfassend zu erörtern (z.B. BFH-Beschlüsse vom 25. Juli 2011 I B 8/11, BFH/NV 2011, 1867; vom 17. März 2008 IX B 258/07, BFH/NV 2008, 1180, m.w.N.; vom 29. Januar 2010 IX S 3/10 (PKH), BFH/NV 2010, 921). Im Übrigen muss ein fachkundig vertretener Beteiligter bei umstrittener Sach- und/oder Rechtslage grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einrichten (z.B. BFH-Beschluss vom 8. Dezember 2010 IX B 102/10, BFH/NV 2011, 1364, m.w.N.). Auch muss der ‑‑wie im Streitfall‑‑ gehörig und fristgemäß geladene Beteiligte sich bewusst sein, dass im Anschluss an die mündliche Verhandlung eine Entscheidung verkündet wird (§ 104 Abs. 1 Satz 1 FGO). Er muss also sämtliche Angriffs- und Verteidigungsmittel in diesem Termin geltend machen und sämtliche Beweise antreten (§ 155 FGO, § 282 der Zivilprozessordnung ‑‑ZPO‑‑). Denn die mündliche Verhandlung ist zur abschließenden Erörterung der Sach- und Rechtslage bestimmt (§ 93 Abs. 1, § 76 Abs. 2, § 104 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dementsprechend ist eine mündliche Verhandlung nicht allein deshalb zu vertagen, um einem Beteiligten Gelegenheit zu weiteren Ermittlungen zu geben, wenn er sich trotz hinreichender Frist und ohne persönliche Entschuldigungsgründe nicht genügend auf die mündliche Verhandlung vorbereitet hat (BFH-Beschluss vom 5. April 2011 VIII B 91/10, BFH/NV 2011, 1174; BFH-Urteil vom 26. Februar 1975 II R 120/73, BFHE 115, 185, BStBl II 1975, 489).
b) Im Streitfall hat das FA, nachdem der Kläger erstmals im Februar 2010 die Umsatzsteuererklärungen für 2005 und 2006 abgegeben hatte, die Schätzungsbescheide für die Streitjahre am 15. April 2010 geändert und dabei die Angaben des Klägers und dementsprechend auch die erklärten Vorsteuerbeträge in der geltend gemachten Höhe übernommen. Der Kläger hat erstmals im Klageverfahren sein Rechtsschutzbegehren konkretisiert und ‑‑unter Hinweis auf den der Klagebegründung beigefügten "Kontennachweis zum Wertübergabeprotokoll Umsatzsteuer", in dem Vorsteuerbeträge nach Konten aufgelistet waren‑‑, den Abzug höherer Vorsteuerbeträge geltend gemacht. Es oblag daher dem Kläger, die Voraussetzungen für den geltend gemachten höheren Vorsteuerabzug, zu denen u.a. nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 UStG auch das Vorhandensein entsprechender Rechnungen gehört, nachzuweisen. Dies konnte für den Kläger als Steuerberater nicht überraschend sein. Selbst wenn der Kläger nicht, wie seine protokollierte Erklärung, "die Rechnungen, aus denen der Vorsteuerabzug begehrt werde, habe er nicht dabei", nahe legt, zusätzliche Vorsteuerbeträge geltend gemacht haben sollte, sondern ihm ‑‑wie er erstmals nach Ablauf der Beschwerdefrist vorgetragen hat‑‑ nur "Schreibfehler bei der Erklärungserstellung unterlaufen (sind), welche durch den Rechtsbehelf berichtigt werden sollten", lag es allein in der Sphäre des Klägers, dies anhand der entsprechenden Rechnungen zu belegen.
c) Die Obliegenheit des Klägers zur gewissenhaften Terminsvorbereitung war auch nicht aufgrund des Verhaltens des FG entfallen. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH stellen unterlassene richterliche Hinweise bei steuerlich beratenen und durch einen fach- und sachkundigen Prozessbevollmächtigten vertretenen Beteiligten regelmäßig keine Verletzung der Prozessförderungspflicht aus § 76 Abs. 2 FGO dar, es sei denn, es würden besondere Umstände dargelegt, die eine Ausnahme von dieser Regel erforderten (z.B. BFH-Beschluss vom 27. Februar 2007 X B 178/06, BFH/NV 2007, 1073, m.w.N.). Anhaltspunkte hierfür sind weder ersichtlich noch vorgetragen worden. Daran, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung keine Nachweise für die zusätzlich geltend gemachten Vorsteuern vorlegen konnte, zeigt sich, dass er insoweit nicht ausreichend auf die mündliche Verhandlung vorbereitet war. Die mangelnde Vorbereitung einer Partei ist im Übrigen kein Vertagungsgrund (§ 227 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 ZPO).
2. Eine Verletzung des rechtlichen Gehörs durch Nichtgewährung von Akteneinsicht liegt nur vor, wenn diese ausdrücklich verweigert worden ist (BFH-Beschlüsse vom 25. Januar 2011 V B 154/09, BFH/NV 2011, 822; vom 14. April 2009 II B 92/08, juris). Dies macht der Kläger selbst nicht geltend. Seinem Beschwerdevorbringen lässt sich auch nicht entnehmen, dass es ihm nicht möglich gewesen sei, sich Akteneinsicht zu verschaffen. Der Kläger macht insoweit lediglich geltend, die Versendung der Akten an seinen Wohnsitz sei abgelehnt worden.