BFH IV. Senat
AO § 173 Abs 1 Nr 1, AO § 177 Abs 1, AO § 177 Abs 3, EStG § 13 Abs 2 Nr 2, EStG § 52 Abs 15
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 09. Juli 2008, Az: 11 K 647/06
Leitsätze
1. NV: Der Antrag auf Abwahl der Nutzungswertbesteuerung für den jeweiligen Veranlagungszeitraum kann grundsätzlich bis zu der Bestandskraft des diesen Veranlagungszeitraum betreffenden Einkommensteuerbescheids gestellt werden .
2. NV: Ein materieller Fehler i.S. des § 177 Abs. 3 AO liegt auch dann vor, wenn erst die nachträgliche, aber gleichwohl zulässige Ausübung eines Wahlrechts zu einer materiell unrichtigen Besteuerung führt .
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind Eheleute und werden im Streitjahr (1991) zur Einkommensteuer zusammenveranlagt. Der Kläger unterhält einen landwirtschaftlichen Betrieb, dessen Gewinn nach Durchschnittssätzen gemäß § 13a des Einkommensteuergesetzes (EStG) ermittelt wird. Der Betrieb umfasst den in seinem Eigentum stehenden Hof A und den ursprünglich vom Schwiegervater angepachteten Hof B, den die Klägerin im November 1991 von ihrer Mutter geerbt hat.
Die Kläger wohnen auf der Hofstelle B (Wohnung F).
Die Mutter des Klägers (Altenteilerin) wohnte auf dem Hof A.
Entsprechend den Angaben der Kläger erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) für 1991 einen Einkommensteuerbescheid, der in Bestandskraft erwuchs.
Mit Schreiben vom 13. Dezember 2001 erstatteten die Kläger für das Streitjahr eine Selbstanzeige nach § 371 der Abgabenordnung (AO) und erklärten nachträglich bisher nicht erfasste Zinseinnahmen. Daneben reichten sie für die Wirtschaftsjahre 1990/91 und 1991/92 berichtigte Anlagen L mit geringfügig erhöhten Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft ein. Gleichzeitig erklärten sie, auf die Nutzungswertbesteuerung für die Wohnung F auf dem Hof B und die Wohnung auf dem Hof A ab dem 1. Januar 1991 unwiderruflich zu verzichten.
Am 17. Februar 2005 erließ das FA einen gemäß § 173 AO geänderten Einkommensteuerbescheid, in dem es nur die nachträglich erklärten Zinseinnahmen berücksichtigte. Weitere Änderungen lehnte es im Hinblick auf die eingetretene Festsetzungsverjährung ab.
In dem Einspruchsverfahren hielten die Kläger an dem Begehren fest, ein Nutzungswert für die Wohnung F und die Altenteilerwohnung auf dem Hof A sei im Streitjahr nicht mehr zu erfassen. Des Weiteren beantragten sie unter Hinweis auf den Hofespachtvertrag vom 7. Oktober 1969 zwischen dem Kläger und dessen Schwiegervater, im Streitjahr dauernde Lasten in Höhe von 7.659,92 DM zum Abzug zuzulassen.
Der Einspruch und die Klage hatten keinen Erfolg.
Zur Begründung führte das Finanzgericht (FG) aus:
Die Abwahl der Nutzungswertbesteuerung zum Ende des Veranlagungszeitraums 1990 sei nicht mehr möglich gewesen, da zum Zeitpunkt der Antragstellung (18. Dezember 2001) die Festsetzungsfrist bereits abgelaufen gewesen sei. Die Hinterziehung der auf die nicht erklärten Kapitalerträge entfallenden Steuern führe nur zu einer Verlängerung der Festsetzungsfrist wegen der Kapitaleinkünfte. Im Übrigen sei Teilverjährung eingetreten.
Eine Abwahl der Nutzungswertbesteuerung könne für das Streitjahr auch deshalb nicht mehr beantragt werden, weil der Einkommensteuerbescheid bestandskräftig geworden sei.
Ob die Voraussetzungen für die Annahme von dauernden Lasten erfüllt seien, könne dahinstehen, da eine Änderung des Einkommensteuerbescheids 1991 wegen eingetretener Bestandskraft nicht mehr in Betracht käme.
Dagegen richtet sich die Revision. Das FG habe die Rechtsprechung zur Teilverjährung (teilweisen Bestandskraft) fehlerhaft angewandt. Die von den Klägern geltend gemachten steuermindernden Tatsachen seien gemäß § 177 Abs. 2 AO in dem Umfang zu berücksichtigen, wie die auf § 173 Abs. 1 AO gestützte Änderung zuungunsten der Kläger reiche. Insoweit sei auch die nachträgliche Abwahl der Nutzungswertbesteuerung zu berücksichtigen.
Zu Unrecht habe das FG den Abzug einer dauernden Last im Streitjahr abgelehnt. Der Pachtvertrag betreffend den Hof B sei als Wirtschaftsüberlassungsvertrag auszulegen mit der Folge, dass die auf Grund dieses Vertrags erbrachten Leistungen des Klägers als dauernde Lasten abzugsfähig seien.
Die Kläger beantragen sinngemäß,
die Vorentscheidung aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 1991 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. November 2006 zu ändern und die Einkommensteuer 1991 mit 146,23 € festzusetzen.
Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Begründung nimmt es Bezug auf die Vorentscheidung.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision der Kläger ist begründet. Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
Dem Kläger war es grundsätzlich möglich, die Nutzungswertbesteuerung der eigengenutzten Wohnung F sowie einer im Streitjahr genutzten Altenteilerwohnung rückwirkend zum 31. Dezember 1990 abzuwählen. Den Feststellungen des FG lässt sich indes nicht entnehmen, ob und für welche Wohnung ein Nutzungswert im Streitjahr angesetzt worden ist. Ebenso fehlt es an Feststellungen dazu, ob die von der Altenteilerin bewohnten Räumlichkeiten auf dem Hof A den Anforderungen an eine (Altenteiler-)Wohnung i.S. des § 52 Abs. 15 EStG a.F. genügt haben, und eine Abwahl der Nutzungswertbesteuerung überhaupt in Betracht käme (dazu 1.).
Zu Unrecht hat das FG die Berücksichtigung von Aufwendungen des Klägers an die Schwiegermutter als dauernde Last im Streitjahr bereits wegen eingetretener Festsetzungsverjährung verneint. Mangels tatsächlicher diesbezüglicher Feststellungen des FG ist dem Senat eine Entscheidung darüber verwehrt, ob den Zahlungen an die Schwiegermutter ein Pachtvertrag zu Grunde liegt oder ein Wirtschaftsüberlassungsvertrag, der eine Anerkennung der Zahlungen als dauernde Last zur Folge hätte (dazu 2.).
1. Soweit in dem Einkommensteuerbescheid 1991 ein Nutzungswert für die Wohnung F und für eine Altenteilerwohnung erfasst worden ist, konnte der Kläger die Nutzungswertbesteuerung beider Wohnungen mit Schriftsatz vom 13. Dezember 2001 rückwirkend zum 31. Dezember 1990 abwählen.
a) Auf Grund der nachträglich erklärten Kapitaleinnahmen war der Einkommensteuerbescheid 1991 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO zu ändern. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig und bedarf keiner weiteren Ausführungen. Liegen die Voraussetzungen für die Änderung eines Steuerbescheids zuungunsten des Steuerpflichtigen vor, so sind, soweit die Änderung reicht, zugunsten und zuungunsten des Steuerpflichtigen solche materiellen Fehler zu berichtigen, die nicht Anlass der Änderung waren (§ 177 Abs. 1 AO).
aa) Ein materieller Fehler i.S. des § 177 Abs. 3 AO liegt indes auch dann vor, wenn er nicht bereits Gegenstand einer früheren Steuerfestsetzung gewesen ist. Entscheidend ist allein, dass im Augenblick der Aufhebung/Änderung ein nicht eigenständig korrigierbarer materieller Fehler vorliegt (Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 11. Juli 2007 I R 96/04, BFH/NV 2008, 6). Ein materieller Fehler ist deshalb auch zu bejahen, wenn erst die nachträgliche, aber gleichwohl zulässige Ausübung eines Wahlrechts zu einer materiell unrichtigen Besteuerung führt (Frotscher in Schwarz, AO, § 177 Rz 28; Pahlke/ Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 177 Rz 19; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 177 AO Rz 5; Leingärtner/Kanzler, Besteuerung der Landwirte, Kap. 17, Rz 129; Klein/Rüsken, AO, 10. Aufl., § 177 Rz 7; zur Nachholung des Veranlagungswahlrechts: BFH-Urteil vom 25. Juni 1993 III R 32/91, BFHE 171, 407, BStBl II 1993, 824; anderer Ansicht von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 177 AO Rz 133).
bb) Die Nutzungswertbesteuerung gemäß § 13 Abs. 2 Nr. 2 EStG a.F. ist gemäß § 52 Abs. 15 Satz 1 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Neuregelung der steuerrechtlichen Förderung des selbstgenutzten Wohneigentums vom 15. Mai 1986 (BGBl I 1986, 730; EStG a.F.) mit Ablauf des Veranlagungszeitraums 1986 entfallen. Gemäß § 52 Abs. 15 Satz 2 EStG a.F. war die Nutzungswertbesteuerung jedoch längstens bis zum Ablauf des Veranlagungszeitraums 1998 anzuwenden, wenn die Voraussetzungen des § 13 Abs. 2 Nr. 2 EStG a.F. im Veranlagungszeitraum 1986 u.a. für die zu eigenen Wohnzwecken oder zu Wohnzwecken des Altenteilers genutzte Wohnung vorlagen. Gemäß § 52 Abs. 15 Satz 4 EStG a.F. konnte der Steuerpflichtige unwiderruflich die Abwahl der Nutzungswertbesteuerung in der Übergangszeit wählen. Die eigengenutzte Wohnung oder die Altenteilerwohnung und das dazugehörende Grundstück galten dann mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums als entnommen, bis zu dem die Nutzungswertbesteuerung letztmals angewendet wurde. Der Entnahmegewinn blieb außer Ansatz (§ 52 Abs. 15 Sätze 6 und 7 EStG a.F.). Da das Gesetz keine zeitliche Beschränkung für den Antrag beinhaltet, kann er grundsätzlich auch rückwirkend gestellt werden (BFH-Urteil vom 6. November 2003 IV R 41/02, BFHE 204, 444, BStBl II 2004, 419). Die Antragsfrist für den jeweiligen Veranlagungszeitraum endet danach grundsätzlich erst mit der Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids (Leingärtner/Kanzler, a.a.O., Kap. 17, Rz 121, m.w.N.).
Im Anwendungsbereich des § 177 Abs. 1 AO kann dementsprechend ein materieller Fehler zu bejahen sein, wenn durch die rückwirkend zulässige Abwahl der Nutzungswertbesteuerung die ursprünglich materiell zutreffende Erfassung des Nutzungswertes nunmehr nachträglich in die Fehlerhaftigkeit hineinwächst (Leingärtner/Kanzler, a.a.O., Kap. 17, Rz 129; Felsmann, Einkommensbesteuerung der Land- und Forstwirte, A Rz 170b).
cc) Der Saldierung im Rahmen des § 177 AO und damit auch der nachträglichen Abwahl der Nutzungswertbesteuerung steht die Festsetzungsverjährung nicht entgegen. § 177 Abs. 3 AO bezieht sich bei der Definition des "materiellen Fehlers" auf die "kraft Gesetzes entstandene Steuer". Daraus folgt, dass es insoweit nur darauf ankommt, ob auf der Basis des materiellen Rechts zu irgendeinem Zeitpunkt ein Steueranspruch bestanden hat; ein späteres Erlöschen dieses Anspruchs (z.B. auf der Grundlage des § 47 AO) wirkt sich auf die Anwendung des § 177 AO nicht aus (BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 6, mit umfangreichen Nachweisen zur Rechtsprechung).
b) Ausgehend von diesen Grundsätzen konnte der Kläger die Abwahl der Nutzungswertbesteuerung für das Streitjahr wirksam beantragen, soweit in diesem Veranlagungszeitraum ein Nutzungswert für die eigengenutzte Wohnung und die Altenteilerwohnung angesetzt worden ist. Zwar ist nach der Rechtsprechung des BFH für die Abwahl der Nutzungswertbesteuerung und die daran anknüpfende Steuerfreiheit des Entnahmegewinns der tatsächliche Ansatz eines Nutzungswertes nicht erforderlich. Ausreichend ist, dass die Voraussetzungen der Nutzungswertbesteuerung vorgelegen haben (BFH-Urteil vom 15. April 2010 IV R 58/07, BFH/NV 2010, 1785). Diese Rechtsprechung kann indes nicht auf die Abwahl der Nutzungswertbesteuerung im Rahmen einer Fehlersaldierung gemäß § 177 Abs. 1 und Abs. 3 AO übertragen werden. Ein materieller Fehler im Sinne dieser Regelung setzt eine fehlerhafte Steuerfestsetzung voraus. Eine solche kann nur vorliegen, wenn ein Nutzungswert (fehlerhaft) in dem zu ändernden Steuerbescheid erfasst worden ist.
c) Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben. Der Senat kann mangels Spruchreife aber nicht in der Sache selbst entscheiden.
Das FG hat, ausgehend von seiner materiellen Sicht, keine Feststellungen dazu getroffen, für welche Wohnung der im Einkommensteuerbescheid 1991 erfasste Nutzungswert angesetzt worden ist. Wenngleich die Aktenlage nahelegt, dass ein Nutzungswert ausschließlich für die Betriebsinhaberwohnung angesetzt worden ist, ist es allein dem FG vorbehalten, etwa unter Heranziehung der Einheitswertakten und der Veranlagungen der vorherigen Veranlagungszeiträume, entsprechende Feststellungen zu treffen. Ggf. wird das FG auch Feststellungen dazu zu treffen haben, ob die von der Altenteilerin zunächst bewohnten Räumlichkeiten auf dem Hof A den Anforderungen an eine (Altenteiler-)Wohnung i.S. des § 52 Abs. 15 EStG a.F. genügt haben. Nach den Feststellungen des FG ist dieser Wohnraum erst im April 1991 zwecks Errichtung eines Neubaus abgerissen worden. Eine nachträgliche Abwahl der Nutzungswertbesteuerung wäre daher im Streitjahr grundsätzlich noch möglich gewesen.
2. Zu Unrecht hat das FG die Berücksichtigung von Aufwendungen des Klägers an die Schwiegermutter als dauernde Last im Streitjahr bereits wegen eingetretener Festsetzungsverjährung verneint. Wie bereits unter II.1.a cc ausgeführt, steht die Festsetzungsverjährung der Saldierung im Rahmen des § 177 AO nicht entgegen. Ein materieller Rechtsfehler i.S. des § 177 Abs. 3 AO liegt auch dann vor, wenn ein Sachverhalt rechtlich fehlerhaft gewürdigt worden ist und deshalb zu einer unzutreffenden Steuerfestsetzung geführt hat. Eine Saldierung gemäß § 177 Abs. 1 AO kommt mithin auch in Betracht, wenn die vertragliche Vereinbarung des Klägers mit seinem Schwiegervater vom 7. Oktober 1969 nicht der rechtlichen Beurteilung im Einkommensteuerbescheid 1991 folgend als Pachtvertrag, sondern als Wirtschaftsüberlassungsvertrag einzustufen wäre. Dies hätte zur Folge, dass die Pachtzahlungen zu Unrecht bei den Einkünften aus Land- und Forstwirtschaft erfasst worden wären. Allerdings wären die Pachtzahlungen und darüber hinaus auch die gewährten Naturalleistungen und Taschengeldzahlungen als dauernde Last (Sonderausgaben) zum Abzug zuzulassen.
Das FG hat die diesbezüglichen Feststellungen, ausgehend von seiner materiellen Würdigung, nicht getroffen. Dies wird es im zweiten Rechtsgang nachzuholen haben.
3. Die Sache ist nicht spruchreif. Die Vorentscheidung war daher aufzuheben und die Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.