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Beschluss vom 28. Juni 2011, X B 146/10

Gerichtlicher Vergleich kein rückwirkendes Ereignis

BFH X. Senat

AO § 175 Abs 1 S 1 Nr 2, BGB § 779

vorgehend FG München, 27. Juni 2010, Az: 15 K 1665/08

Leitsätze

1. NV: Ein gerichtlicher Vergleich über ein Rechtsverhältnis stellt kein rückwirkendes Ereignis dar, weil durch einen solchen Vergleich der Streit oder die Ungewissheit der Beteiligten  über ein Rechtsverhältnis im Wege gegenseitigen Nachgebens beseitigt, aber nicht ein Lebenssachverhalt rückwirkend anders gestaltet wird .

2. NV: Auch bei der Gewinnermittlung durch Bestandsvergleich sind die aufgrund des Eintritts neuer Ereignisse materiell-rechtlich erforderlichen steuerlichen Anpassungen regelmäßig nicht rückwirkend, sondern in dem Besteuerungszeitraum vorzunehmen, in dem sich der maßgebende Sachverhalt ändert; eine Ausnahme bilden Steuertatbestände, die an ein einmaliges, punktuelles Ereignis anknüpfen .

Tatbestand

  1. I. Die Klägerinnen und Beschwerdeführerinnen I und A (Klägerinnen) sind die Erben des während des Klageverfahrens verstorbenen M. I und M waren Eheleute, die im Streitjahr 2001 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt wurden.

  2. Mit ihrer Beschwerde über die Nichtzulassung der Revision machen die Klägerinnen sinngemäß die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) sowie die Notwendigkeit einer Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) geltend. Klärungsbedürftig sei die Frage, ob ein (gerichtlicher) Vergleich i.S. von § 779 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) auch dann kein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO) darstelle, wenn ein solcher Vergleich nicht nur den Streit oder die Ungewissheit der Parteien über ein Rechtsverhältnis im Wege gegenseitigen Nachgebens beseitige und nicht nur eine nachträgliche einvernehmliche Beurteilung eines von Anfang an vorliegenden Tatbestands vorgenommen, sondern der Lebenssachverhalt selbst geändert werde. Im Streitfall habe der gerichtliche Vergleich die Auseinandersetzung zwischen M und dem Zweckverband über die Frage, ob die Leistungsabrechnung rechtsverbindlich zugesagt und damit der Pachtvertrag geändert worden oder ob es beim Verlustausgleich geblieben sei, beendet. Außerdem sei zu klären, ob eine für ein Unternehmen bedeutsame Grundlagenvereinbarung einen einmaligen, punktuellen Vorgang i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO darstellen könne. Der gerichtliche Vergleich habe die Zusage der Leistungsentgeltabrechnung als einmaligen Vorgang rückwirkend entfallen lassen. Weiterhin sei die Frage klärungsbedürftig, ob bei einer Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung bezüglich der Anwendbarkeit von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO höher einzustufen seien als § 3 Abs. 1 AO i.V.m. den verfassungsrechtlichen Grundsätzen des objektiven Nettoprinzips und der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Im Streitfall sei rückwirkend aus einem gewerblichen Gewinn ein gewerblicher Verlust geworden. Für die Besteuerung des Gewinns fehle es am Tatbestand; außerdem werde von der Beachtung des objektiven Nettoprinzips und der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit abgewichen. Schließlich habe das Finanzgericht (FG) die Frage, ob eine Änderung des Sachverhalts i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO auch vorliege, wenn diese Änderung eine zuvor eingetretene Änderung rechtlich und wirtschaftlich rückgängig mache und damit den alten Zustand wieder herstelle, verneint und sei damit von der einschlägigen BFH-Rechtsprechung (z.B. Urteil vom 27. September 1988 VIII R 432/83, BFHE 155, 83, BStBl II 1989, 225; Senatsurteile vom 12. Juli 1989 X R 8/84, BFHE 157, 484, BStBl II 1989, 957, und vom 9. August 1990 X R 5/88, BFHE 162, 355, BStBl II 1991, 55) abgewichen.

Entscheidungsgründe

  1. II. Die Beschwerde ist ‑‑bei erheblichen Zweifeln an ihrer Zulässigkeit‑‑ jedenfalls unbegründet.

  2. 1. Die von den Klägerinnen geltend gemachten Zulassungsgründe nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO liegen nicht vor.

  3. a) Die Revision ist nicht zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) zuzulassen. Die erfolgreiche Geltendmachung dieses Zulassungsgrunds setzt u.a. voraus, dass das FG in einer Rechtsfrage von der Entscheidung des BFH abgewichen ist (BFH-Beschluss vom 12. November 2007 IV B 36/07, BFH/NV 2008, 766, unter 1.; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 115 Rz 53, m.w.N.). Eine Divergenz in der Würdigung von Tatsachen genügt allerdings nicht (BFH-Beschluss vom 6. April 2006 IV B 131/04, BFH/NV 2006, 1476, unter 2. b; Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 53, m.w.N.).

  4. Im Streitfall hat das FG die Frage, ob eine Änderung des Sachverhalts i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO auch dann gegeben ist, wenn diese Änderung eine zuvor eingetretene Änderung rechtlich und wirtschaftlich rückgängig macht und damit den alten Zustand wieder herstellt, deshalb verneint, weil es den gerichtlichen Vergleich rechtlich nicht als Änderung einer durch das Schreiben des Zweckverbands vom 19. Juli 2001 eingetretenen Änderung, sondern als Bestätigung des ursprünglichen Zustands ‑‑Verlustausgleichszahlungen durch den Zweckverband‑‑ würdigte. Damit ist das FG aber nicht in einer abstrakten Rechtsfrage von Entscheidungen des BFH abgewichen, sondern hat dem Sachverhalt lediglich eine andere rechtliche Bedeutung als die Klägerinnen beigemessen.

  5. b) Die Revision ist auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zuzulassen.

  6. Eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung setzt regelmäßig voraus, dass der BFH sich zu einer entscheidungserheblichen Rechtsfrage noch nicht geäußert hat. Dies ist aber im Hinblick auf die durch die Klägerinnen aufgeworfenen Rechtsfragen nicht der Fall.

  7. aa) Der BFH hat bereits entschieden, dass Vergleiche i.S. des § 779 BGB über ein Rechtsverhältnis kein rückwirkendes Ereignis i.S. des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO darstellen, weil durch solche Vergleiche der Streit oder die Ungewissheit der Parteien über ein Rechtsverhältnis im Wege gegenseitigen Nachgebens beseitigt und ein Lebenssachverhalt rückwirkend nicht anders gestaltet, sondern nur die rechtliche Beurteilung betroffen wird (BFH-Urteil vom 26. Februar 2008 II R 82/05, BFHE 220, 526, BStBl II 2008, 629, unter II.1.b).

  8. Indem die Klägerinnen rügen, das FG habe nicht zutreffend dargestellt, dass der Vergleich den Streit zwischen M und dem Zweckverband, ob die Leistungsabrechnung verbindlich zugesagt und der Pachtvertrag dementsprechend geändert worden sei oder ob es beim Verlustausgleich geblieben sei, beseitigt hätte, greifen sie die rechtliche Würdigung durch das FG an. Hiermit kann aber eine Zulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht erreicht werden; die tatrichterliche Überzeugungsbildung, die Tatsachen- bzw. Sachverhaltswürdigung sowie Schlussfolgerungen tatsächlicher Art sind nämlich einer Nachprüfung durch den BFH weitgehend entzogen. Die tatrichterliche Überzeugungsbildung der Vorinstanz (§ 96 Abs. 1 FGO) ist nur insoweit revisibel, als Verstöße gegen die Verfahrensordnung, gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze vorliegen (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 29. Mai 2009 VII B 233/08, BFH/NV 2009, 1455, unter II.1.a, m.w.N.). Solche Verstöße sind im Streitfall nicht ersichtlich.

  9. bb) Auch die Frage, ob eine für ein Unternehmen wirtschaftlich und rechtlich existenziell bedeutsame Grundlagenvereinbarung einen einmaligen, punktuellen Vorgang i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO darstellt, hat keine grundsätzliche Bedeutung, da sie im Streitfall nicht entscheidungserheblich ist.

  10. Das FG hat dargelegt, dass der gerichtliche Vergleich die nach dem Pachtvertrag als Dauerschuldverhältnis über Jahre bestehende Pflicht des Zweckverbands zur Zahlung eines Verlustausgleichs konkretisiert hat. Daher kommt es auf die Rechtsqualität des Schreibens des Zweckverbands vom 19. Juli 2001 nicht an. Im Übrigen rügen die Klägerinnen mit der sinngemäßen Aussage, das FG hätte auf die Rechtsqualität des Schreibens vom 19. Juli 2001 und nicht auf den Pachtvertrag abstellen müssen, die rechtliche Würdigung durch das FG. Dies könnte allenfalls im Rahmen einer Verfahrensrüge, nicht aber nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zur Zulassung der Revision führen (Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 27, m.w.N.).

  11. c) Schließlich kommt auch der Frage, ob bei der Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung in Bezug auf die Anwendbarkeit von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO höher einzustufen seien als § 3 Abs. 1 AO i.V.m. den für die Ertragsteuern geltenden verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und dem objektiven Nettoprinzip, keine grundsätzliche Bedeutung zu.

  12. Der BFH hat bereits entschieden, dass bei den laufend veranlagten Steuern wie der Einkommensteuer die aufgrund des Eintritts neuer Ereignisse materiell-rechtlich erforderlichen steuerlichen Anpassungen regelmäßig nicht rückwirkend, sondern in dem Besteuerungszeitraum vorzunehmen sind, in dem sich der maßgebende Sachverhalt ändert. Dieser Grundsatz gilt auch für die Gewinnermittlung durch Bestandsvergleich, soweit nicht die einschlägigen steuerrechtlichen Vorschriften bestimmen, dass eine Änderung des nach dem Steuertatbestand rechtserheblichen Sachverhalts zu einer rückwirkenden Änderung steuerlicher Rechtsfolgen führt; dies ist bei Steuertatbeständen gegeben, die an ein einmaliges, punktuelles Ereignis anknüpfen, wie z.B. die Veräußerung eines Gewerbebetriebes nach § 16 Abs. 1 EStG (Senatsurteil vom 13. September 2000 X R 148/97, BFHE 193, 129, BStBl II 2001, 641, unter II.3.b). Auch diesbezüglich stellt der Vortrag der Klägerinnen, das FG habe den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung mehr Bedeutung beigemessen als den Grundsätzen der Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und dem objektiven Nettoprinzip, die rechtliche Würdigung des FG in Frage. Dies kann aber ‑‑wie dargelegt‑‑ nicht zur Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung führen.

  13. 2. Der Senat hat das Rubrum das FG-Urteils gemäß § 107 FGO insoweit berichtigt, als dieses als Kläger noch den im Verlauf des Klageverfahrens verstorbenen M und nicht die an seine Stelle als Erbengemeinschaft getretenen I und A als Klagepartei aufgeführt hat (BFH-Urteil vom 6. Juni 2007 II R 20/06, BFH/NV 2008, 4, unter II.4.).

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