BFH III. Senat
FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 76 Abs 1, AO § 110, AO § 355 Abs 1
vorgehend FG Nürnberg, 08. November 2010, Az: 6 K 987/10
Leitsätze
NV: Die fristgerechte Einlegung des Einspruchs stellt eine von den Finanzgerichten bei der Sachentscheidung zu beachtende materiell-rechtliche Vorfrage dar. Dies schließt die volle Überprüfung einer Verwaltungsentscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein .
Tatbestand
I. Die Beklagte und Beschwerdegegnerin (Familienkasse) hob mit Bescheid vom 17. Oktober 2008 gegenüber der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) mit Wirkung ab Januar 2009 die Bewilligung von Kindergeld für deren Sohn auf, weil dieser das 25. Lebensjahr vollendete. Nachdem sich der Ehemann der Klägerin laut Aktenvermerk am 7. November 2008 fernmündlich an die Familienkasse gewandt hatte, legte die Klägerin mit Schreiben vom 19. Dezember 2008 "zur Fristwahrung" Einspruch ein ohne Angaben, weshalb der Einspruch erst jetzt eingelegt werde. Die Familienkasse wies den Einspruch nach Sachprüfung mit Einspruchsentscheidung vom 31. Mai 2010 als unbegründet zurück. Die Klage blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) entschied nach richterlichem Hinweis, der angefochtene Aufhebungsbescheid sei bei Einspruchseinlegung bereits bestandskräftig gewesen. Stelle sich im finanzgerichtlichen Verfahren die Unanfechtbarkeit des den Gegenstand des Verfahrens bildenden Bescheids heraus, so sei die Klage nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ohne weitere Sachprüfung als unbegründet abzuweisen. Die gesetzliche Einspruchsfrist sei anders als die in § 109 der Abgabenordnung (AO) genannten Fristen nicht verlängerungsfähig. Das vor Ablauf der Einspruchsfrist geführte Telefonat vom 7. November 2008 könne nicht als Wiedereinsetzungsantrag gewertet werden. Für das behauptete spätere Gespräch des Ehemannes mit dem Leiter der Familienkasse, das kurz vor dem 19. Dezember 2008 stattgefunden haben soll, ergäben sich aus den Akten keine Anhaltspunkte. Zum einen könne ein solches Gespräch nach Ablauf der Einspruchsfrist nicht ursächlich für die Fristversäumnis geworden sein, zum anderen seien Wiedereinsetzungsgründe weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.
Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) geltend. Indem das FG das Gespräch ihres Ehemannes und Zeugen mit dem Leiter der Familienkasse als reine Schutzbehauptung gewertet habe, habe es in unzulässiger Weise die Beweiswürdigung vorweggenommen. Es habe den diesbezüglichen Beweisantrag übergangen und auch seine Amtsermittlungspflicht dadurch verletzt, dass es ihrem Hinweis nicht von sich aus nachgegangen sei. Die Aussage des Zeugen sei entscheidungserheblich. Denn da der Leiter der Familienkasse in dem Gespräch erklärt habe, ein Einspruch sei bis zum 22. Dezember 2008 möglich, könne ihr, der Klägerin, nicht vorgehalten werden, sie habe eine Auflistung von Wiedereinsetzungsgründen nicht eingereicht. Danach habe das FG die Klage zu Unrecht ohne weitere Sachprüfung als unbegründet abgewiesen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO). Der Senat kann offenlassen, ob die Klägerin die geltend gemachten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechend dargelegt hat. Sie liegen jedenfalls nicht vor.
Nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
a) Die Sachaufklärungspflicht gemäß § 76 Abs. 1 FGO erfordert, dass das FG Tatsachen ermittelt und Beweise erhebt, wenn sich ihm diese Maßnahmen in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls hätten aufdrängen müssen. Es darf substantiierte Beweisanträge, die den entscheidungserheblichen Sachverhalt betreffen, grundsätzlich weder ablehnen noch übergehen. Da die Sachaufklärungspflicht dazu dient, die Spruchreife der Klage herbeizuführen, hat das Gericht jedoch nur das aufzuklären, was aus seiner Sicht entscheidungserheblich ist (BFH-Beschluss vom 23. September 2009 IV B 133/08, BFH/NV 2010, 52, m.w.N.).
b) Nach der danach maßgeblichen materiell-rechtlichen Sicht des FG kam es im Streitfall nicht darauf an, welche Wahrnehmungen der Zeuge bekunden werde.
Die Vorentscheidung stützt sich auf die ständige Rechtsprechung des BFH (vgl. Urteil vom 24. Juli 1984 VII R 122/80, BFHE 141, 470, BStBl II 1984, 791), wonach die FG bei ihrer Sachentscheidung die fristgemäße Einlegung des Einspruchs als materiell-rechtliche Vorfrage zu beachten haben. Dies schließt die volle Überprüfung einer etwaigen Verwaltungsentscheidung über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) ein (vgl. Senatsurteil vom 14. Juli 1989 III R 54/84, BFHE 158, 273, BStBl II 1989, 1024; BFH-Beschluss vom 27. Juli 2009 XI B 120/08, juris). Das FG erkannte, dass im Streitfall die nicht verlängerungsfähige Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 Satz 1 AO versäumt ist und Wiedereinsetzungsgründe in die versäumte Einspruchsfrist weder geltend gemacht wurden noch sonst ersichtlich sind. Gleich wie sich der Leiter der Familienkasse gegenüber dem Zeugen geäußert haben mag, fehlte nach Auffassung des FG für eine Verlängerung der Einspruchsfrist ebenso die Rechtsgrundlage wie für eine ausdrückliche oder konkludente Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.
c) Der Klägerin ist zwar darin beizupflichten, dass, sollte der Vertreter der Familienkasse den Eindruck erweckt haben, der Einspruch sei rechtzeitig oder es werde ihr jedenfalls Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist gewährt, sie es zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr für erforderlich halten musste, noch Wiedereinsetzungsgründe geltend zu machen. Verhielte es sich so, dann hätte die Klägerin diese Gründe jedoch nach erfolgtem richterlichen Hinweis vortragen müssen, um dem FG eine entsprechende Prüfung zu ermöglichen.
Letztlich kann es dahinstehen, ob die mit Schriftsatz vom 14. März 2011 ‑‑außerhalb der Beschwerdebegründungsfrist des § 116 Abs. 3 Satz 1 FGO‑‑ erstmals vorgetragenen Gründe, ein vermeintlich unverschuldeter Rechtsirrtum hinsichtlich der Form der Wahrung der Einspruchsfrist sowie das angebliche Warten auf ärztliche Atteste, das einem auch nur fristwahrenden Einspruch entgegengestanden haben soll, eine Wiedereinsetzung nach § 110 AO rechtfertigen können. Dem FG hat die Klägerin diese Gründe vorenthalten.