BFH III. Senat
GG Art 103 Abs 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 76 Abs 1 S 2, FGO § 76 Abs 2, FGO § 96 Abs 2
vorgehend FG Münster, 21. Dezember 2009, Az: 13 K 873/07 E
Leitsätze
1. NV: Der Verzicht auf die mündliche Verhandlung muss als Prozesshandlung klar, eindeutig und vorbehaltlos erklärt werden. Im Einzelfall wird er auch durch die Bitte um Entscheidung nach Aktenlage unmissverständlich zum Ausdruck gebracht .
2. NV: Für die gerichtliche Prüfung von Ermessensentscheidungen sind die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich. Wird ein Verstoß des FG gegen die Sachaufklärungspflicht gerügt, kann sich das Beweisthema demnach nur auf einen Sachverhalt beziehen, den die Behörde bis zu ihrer letzten Entscheidung fehlerhaft berücksichtigt habe .
Tatbestand
I. Das Finanzgericht (FG) hat die Klage des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) wegen Erlass von Säumniszuschlägen zur Einkommensteuer 2002 und 2003 als unbegründet abgewiesen. Das Urteil wurde dem Kläger am 20. Januar 2010 zugestellt.
Der Kläger legte durch die Prozessbevollmächtigten Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision ein. Am 30. März 2010 auf die Versäumung der Begründungsfrist des § 116 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) hingewiesen, beantragte der Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und reichte am 27. April 2010 die Begründung ein. Mit dieser macht er Verfahrensmängel geltend (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
Entscheidungsgründe
II. 1. Es kann dahingestellt bleiben, ob dem Kläger Wiedereinsetzung in die versäumte Beschwerdebegründungsfrist zu gewähren ist. Über die Zulässigkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde braucht nicht entschieden zu werden, wenn die Beschwerde jedenfalls unbegründet ist (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 11. Februar 1987 II B 140/86, BFHE 148, 494, BStBl II 1987, 344; vom 19. Mai 2008 V B 30/07, juris).
2. Die Beschwerde ist unbegründet und durch Beschluss zurückzuweisen (§ 116 Abs. 5 Satz 1 FGO). Soweit Verfahrensmängel den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechend gerügt wurden, liegen solche nicht vor.
a) Das FG hat den Anspruch des Klägers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) nicht verletzt.
Der Kläger hat wirksam auf mündliche Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 FGO). Nachdem die vormaligen Bevollmächtigten das Mandat niedergelegt hatten, erklärte der Kläger mit Schreiben vom 18. Februar 2009, er sei finanziell nicht in der Lage, einen neuen Bevollmächtigten hinzuzuziehen. Er bat das FG um Fortsetzung des Verfahrens und um Entscheidung nach Aktenlage unter Berücksichtigung des schriftsätzlichen Vorbringens. Gleichwohl bestimmte das FG einen Termin zur mündlichen Verhandlung. Dessen Mitteilung, dass der Termin auf Antrag des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt ‑‑FA‑‑) aufgehoben werde, sandte der Kläger am 4. Juni 2009 urschriftlich an das FG zurück mit der erneuten Bitte um Entscheidung nach Aktenlage. Hierdurch hat er unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass er von seinem Recht auf rechtliches Gehör in einer mündlichen Verhandlung keinen Gebrauch machen wollte.
Im Übrigen verlangen der Anspruch auf rechtliches Gehör und die richterliche Hinweispflicht des § 76 Abs. 2 FGO nicht, dass das Gericht die maßgebenden Rechtsfragen mit den Beteiligten umfassend erörtert oder die einzelnen für die Entscheidung erheblichen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkte im Voraus andeutet (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 18. Oktober 2010 VI B 91/10, BFH/NV 2011, 280).
b) Einen Verstoß des FG gegen die Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) hat der Kläger nicht den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechend dargelegt. Hierfür hätte er schlüssig vortragen müssen, inwiefern das angefochtene Urteil ‑‑ausgehend von der materiell-rechtlichen Auffassung des FG‑‑ auf unterlassener Sachaufklärung beruhe (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Beschluss vom 15. Oktober 2010 II B 39/10, BFH/NV 2011, 206).
Das FG entschied, das FA habe bei der Entscheidung über den Erlassantrag zutreffend berücksichtigt, dass der Kläger nachprüfbare und aussagekräftige Unterlagen über seine wirtschaftlichen Verhältnisse nicht vorgelegt habe und gegen die behauptete Überschuldung und Zahlungsunfähigkeit die im Jahr 2006 erfolgte Zahlung von 60.000 € spreche. Anders als mit der Beschwerde geltend gemacht, ist den FG-Akten ein Vortrag oder ein Beweisantritt des Klägers zu der Herkunft der Mittel nicht zu entnehmen. Im Übrigen setzt sich die Beschwerde nicht mit der Frage auseinander, wie eine diesbezügliche Sachaufklärung für den Ausgang des Rechtsstreits hätte ursächlich werden können. Denn nach ständiger Rechtsprechung sind für die gerichtliche Nachprüfung von Ermessensentscheidungen die tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung maßgeblich (vgl. BFH-Entscheidungen vom 26. März 1991 VII R 66/90, BFHE 164, 7, BStBl II 1991, 545; vom 22. Januar 2008 VIII B 92/07, juris). Dass dem FA im Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung Erkenntnismöglichkeiten zur Verfügung gestanden hätten, die jedoch nicht genutzt worden seien und worüber das FG hätte Beweis erheben sollen, ist mit der Beschwerde nicht geltend gemacht worden.
Einen Verfahrensmangel kann schließlich nicht begründen, dass es dem FG aufgrund § 240 Abs. 1 Satz 4 der Abgabenordnung für die Verwirkung von Säumniszuschlägen auf die Frage der Rechtmäßigkeit der Vorauszahlungsbescheide zur Einkommensteuer 2002 und 2003 nicht ankam.