BFH II. Senat
AO § 33 Abs 1, AO § 34 Abs 3, InsO § 35 Abs 1, InsO § 35 Abs 2, InsO § 36, InsO § 55 Abs 1 Nr 1, InsO § 80, KraftStG § 1 Abs 1 Nr 1, ZPO § 811 Abs 1 Nr 5
vorgehend FG Düsseldorf, 27. Januar 2010, Az: 8 K 236/09 Verk
Leitsätze
Nach Insolvenzeröffnung entstandene Kraftfahrzeugsteuer ist eine Masseverbindlichkeit i.S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, wenn das Fahrzeug, für dessen Halten die Kraftfahrzeugsteuer geschuldet wird, Teil der Insolvenzmasse ist. Die Freigabe der selbstständigen Tätigkeit des Insolvenzschuldners nach § 35 Abs. 2 InsO durch den Insolvenzverwalter ist für die Beurteilung der Kraftfahrzeugsteuer als Masseverbindlichkeit oder insolvenzfreie Verbindlichkeit ohne Bedeutung.
Tatbestand
I.
Mit Beschluss vom 15. September 2008 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der S (Schuldnerin) eröffnet und der Kläger und Revisionskläger (Kläger) zum Insolvenzverwalter bestellt.
Mit Bescheid vom 27. Oktober 2008 setzte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) die Kraftfahrzeugsteuer für einen auf die Schuldnerin zugelassenen PKW gegenüber dem Kläger für die Zeit vom 15. September 2008 bis 25. Februar 2009 auf 94 € und für die Zeit danach auf jährlich 211 € fest. Der Auffassung des Klägers, die Kraftfahrzeugsteuer sei keine Masseverbindlichkeit, weil er den Geschäftsbetrieb und in Zusammenhang damit auch das Fahrzeug der Schuldnerin aus dem Massebeschlag gemäß § 35 Abs. 2 der Insolvenzordnung in der ab 1. Juli 2007 geltenden Fassung (InsO) freigegeben habe, folgte das FA nicht.
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) beurteilte die Kraftfahrzeugsteuer als Masseverbindlichkeit, da die Rechtsposition als Halter des Fahrzeugs zur Insolvenzmasse gehöre und somit der Verwaltungsbefugnis des Klägers unterliege. Eine insolvenzrechtliche Freigabe des Fahrzeugs ändere an der Halterzuordnung nichts. Dies gelte auch nach der Erweiterung des § 35 InsO um die mit Wirkung vom 1. Juli 2007 eingefügten Abs. 2 und 3, da diese nur klarstellende Funktion hätten. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 570 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt der Kläger Verletzung der §§ 35 Abs. 2, 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Zu Unrecht messe das FG § 35 Abs. 2 InsO nur klarstellende Funktion bei. Die Verwendungs- und Verfügungsmöglichkeit über einen PKW liege nach der Freigabe nicht mehr beim Insolvenzverwalter, sondern beim Schuldner. Der Gesetzgeber habe mit der Einführung des § 35 Abs. 2 InsO die Insolvenzmasse vor Haftungsrisiken schützen wollen. Dieser Normzweck würde nicht erreicht, wenn die Insolvenzmasse die Kraftfahrzeugsteuer für ein freigegebenes Fahrzeug zu tragen hätte. Die Insolvenzmasse würde ferner unverhältnismäßig belastet, wenn zwar die Vorteile aus der Freigabe des Fahrzeugs dem Schuldner zugute kämen, die Masse jedoch mit den mit der Fahrzeugnutzung zusammenhängenden Verbindlichkeiten belastet würde.
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung sowie den Kraftfahrzeugsteuerbescheid vom 27. Oktober 2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 16. Dezember 2008 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat auf der Grundlage der von ihm getroffenen Feststellungen zu Unrecht angenommen, die Kraftfahrzeugsteuer sei als Masseverbindlichkeit gegenüber dem Kläger als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Schuldnerin festzusetzen.
1. Im Ansatzpunkt zutreffend ist die Ansicht des FG, dass mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens gemäß § 80 Abs. 1 InsO das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen (§ 35 Abs. 1 InsO) zu verwalten, auf den Insolvenzverwalter übergeht und dieser als Vermögensverwalter gemäß § 34 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) die steuerlichen Pflichten des Schuldners zu erfüllen hat, soweit seine Verwaltung reicht (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 13. April 2011 II R 49/09, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht ‑‑ZIP‑‑ 2011, 1728, m.w.N.).
Als Vermögensverwalter ist der Insolvenzverwalter Steuerpflichtiger (§ 33 Abs. 1 AO; vgl. auch BFH-Urteil vom 21. Dezember 1988 V R 29/86, BFHE 155, 475, BStBl II 1989, 434, allgemein zu Vermögensverwalter) und richtiger Bekanntgabe- und Inhaltsadressat von Steuerbescheiden, mit denen eine Finanzbehörde bestehende Masseverbindlichkeiten geltend macht. Demgegenüber sind Steuerforderungen, die sich gegen das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners richten, gegen den Schuldner festzusetzen (BFH-Urteil in ZIP 2011, 1728).
2. Ebenfalls zutreffend ist die Auffassung des FG, dass § 35 Abs. 2 InsO für die Beantwortung der Frage, ob es sich bei der Kraftfahrzeugsteuer um eine Masseverbindlichkeit handelt, ohne Bedeutung ist.
a) Übt der Schuldner eine selbstständige Tätigkeit aus oder beabsichtigt er, demnächst eine solche Tätigkeit auszuüben, hat der Insolvenzverwalter gemäß § 35 Abs. 2 InsO ihm gegenüber zu erklären, ob Vermögen aus der selbstständigen Tätigkeit zur Insolvenzmasse gehört und ob Ansprüche aus dieser Tätigkeit im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können. "Ansprüche aus dieser Tätigkeit" sind entgegen des missverständlichen Wortlauts nicht Ansprüche des Schuldners, sondern Ansprüche gegen den Schuldner, also Verbindlichkeiten des Schuldners (vgl. Smid, Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht 2008, 133).
b) Die Kraftfahrzeugsteuer ist keine Verbindlichkeit des Schuldners aus einer selbstständigen Tätigkeit.
Steuergegenstand der Kraftfahrzeugsteuer ist nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Kraftfahrzeugsteuergesetzes neben weiteren hier nicht bedeutsamen Tatbeständen (wie z.B. die widerrechtliche Benutzung von Fahrzeugen) das Halten von inländischen Fahrzeugen zum Verkehr auf öffentlichen Straßen. Der steuerrechtliche Tatbestand des Haltens eines Kfz ist mit der Zulassung des Kfz erfüllt, unabhängig davon, ob überhaupt oder in welchem Umfange von dem durch die Zulassung eingeräumten Recht, das Kfz auf öffentlichen Straßen in Betrieb zu setzen, im Einzelfall tatsächlich Gebrauch gemacht wird (BFH-Beschluss vom 20. April 2006 VII B 332/05, BFH/NV 2006, 1519). Da es für das Entstehen der Kraftfahrzeugsteuer nicht darauf ankommt, ob und wie das Fahrzeug genutzt wird, besteht kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Entstehen der Kraftfahrzeugsteuer und einer selbstständigen Tätigkeit des Halters.
3. Entgegen der Ansicht des FG kann die nach Insolvenzeröffnung begründete Kraftfahrzeugsteuer nicht mit der Begründung als Masseverbindlichkeit i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 Alternative 2 InsO beurteilt werden, dass die Rechtsposition als Halter des Kfz zur Insolvenzmasse gehöre. Maßgebend ist vielmehr, ob das Fahrzeug Teil der Insolvenzmasse ist (BFH-Urteil in ZIP 2011, 1728). Soweit der BFH dazu früher eine andere Auffassung vertreten hat, hat er sie in diesem Urteil aufgegeben.
a) Der Senat teilt ferner nicht die im BFH-Urteil vom 16. Oktober 2007 IX R 25/07 (BFH/NV 2008, 250) vertretene Auffassung, die nach Insolvenzeröffnung entstandene Kraftfahrzeugsteuer sei unbeschadet einer vom Insolvenzverwalter ausgesprochenen Freigabe des Fahrzeugs Masseverbindlichkeit i.S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, solange die Steuerpflicht wegen der verkehrsrechtlichen Zulassung des Fahrzeugs auf den Schuldner noch andauere. Entgegen der Ansicht des IX. Senats kommt es für die Beurteilung der Kraftfahrzeugsteuer als Masseverbindlichkeit nicht auf eine Verwendungsmöglichkeit des Fahrzeugs "im Geschäft" des Schuldners und damit auf dessen Nutzung für die Insolvenzmasse an. Denn nach dem Wortlaut des § 55 Abs. 1 Nr. 1 Alternative 2 InsO ("durch die Verwaltung ... der Insolvenzmasse") liegen Masseverbindlichkeiten nur vor, wenn ein Massegegenstand verwaltet wird und daraus eine (Steuer-)Verbindlichkeit resultiert. Dementsprechend ist auch die nach Insolvenzeröffnung durch sonstige Leistungen des Schuldners begründete Umsatzsteuer jedenfalls dann keine Masseverbindlichkeit, wenn die Umsätze nicht im Wesentlichen auf der Nutzung von Massegegenständen beruhen (vgl. BFH-Urteil vom 17. März 2010 XI R 2/08, BFHE 229, 394).
b) Zur Beantwortung der Frage, ob das Fahrzeug Teil der Insolvenzmasse ist und damit ein Bezug der Kraftfahrzeugsteuer zur Insolvenzmasse besteht, ist zwischen der Freigabe des Fahrzeugs (sog. echte Freigabe) und der Freigabe der selbstständigen Tätigkeit des Schuldners nach § 35 Abs. 2 InsO zu unterscheiden.
aa) Hat der Insolvenzverwalter eine echte Freigabe des Fahrzeugs erklärt, entfällt ein Bezug der Kraftfahrzeugsteuer zur Insolvenzmasse. Denn durch die Freigabeerklärung wird das Fahrzeug aus der Insolvenzmasse entlassen und fällt in das insolvenzfreie Schuldnervermögen zurück (vgl. Hirte in Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 13. Aufl., § 35 Rz 82, m.w.N.).
bb) Im Gegensatz zur echten Freigabe des Fahrzeugs hat die Freigabe der selbstständigen Tätigkeit des Schuldners nach § 35 Abs. 2 InsO keine Auswirkungen auf die Massezugehörigkeit eines im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung vorhandenen Fahrzeugs. Durch diese Erklärung wird das Fahrzeug nicht aus der Insolvenzmasse entlassen. Denn eine Freigabe der selbstständigen Tätigkeit gemäß § 35 Abs. 2 InsO umfasst nur den Neuerwerb und nicht das im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung bereits vorhandene Vermögen (vgl. Urteil des Verwaltungsgerichts Trier vom 14. April 2010 5 K 11/10.TR, ZIP 2010, 1141; Hirte in Uhlenbruck, a.a.O., § 35 Rz 100; Schumacher in FK-InsO, 6. Aufl., § 35 Rz 13; Wischemeyer, Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht 2009, 2121, 2125 f.; a.A. Dahl, NJW-Spezial 2007, 485). Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 35 Abs. 2 InsO, wonach die Freigabe "Vermögen aus der selbstständigen Tätigkeit", also den Neuerwerb betrifft. Ferner bestand auch kein Bedürfnis für den Gesetzgeber, in § 35 Abs. 2 InsO die Freigabe von im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung vorhandenem Vermögen zu regeln. Denn der Insolvenzverwalter konnte bereits nach der vor dem 1. Juli 2007 bestehenden Rechtslage einzelne Vermögensgegenstände aus der Insolvenzmasse freigeben (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens vom 2. November 2006, BTDrucks 16/3227, S. 17). Zudem wird Vermögen, das für die selbstständige Tätigkeit des Schuldners erforderlich ist, meist schon nach § 811 Abs. 1 Nr. 5 der Zivilprozessordnung (ZPO) pfändungsfrei und daher gemäß § 36 InsO insolvenzfrei sein, so dass schon die Voraussetzungen einer Freigabe nicht vorliegen. Schließlich widerspräche es dem Normzweck des § 35 Abs. 2 InsO, wenn die Freigabe der selbstständigen Tätigkeit auch das schon vorhandene Vermögen umfasste. Denn dieser besteht u.a. darin, eine Gefährdung der Masse durch eine selbstständige Tätigkeit des Schuldners zu verhindern (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung des Insolvenzverfahrens vom 2. November 2006, BTDrucks 16/3227, S. 11). Führte die Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO jedoch dazu, dass das gesamte unternehmerische Vermögen aus der Insolvenzmasse entlassen würde, hätte dies eine erhebliche Verkürzung der Insolvenzmasse und damit gerade deren Gefährdung zur Folge.
Ebenso wenig kann eine Freigabe der selbstständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO dahin ausgelegt werden, dass der Insolvenzverwalter neben der selbstständigen Tätigkeit zugleich im Wege der echten Freigabe (sämtliches) bereits vorhandenes unternehmerisches Vermögen des Schuldners freigegeben hat. Der Erklärungsinhalt einer Freigabe der selbstständigen Tätigkeit nach § 35 Abs. 2 InsO erfüllt nicht die inhaltlichen Voraussetzungen einer echten Freigabe eines Gegenstandes. Denn der Insolvenzverwalter ist nur zu einer echten Freigabe einzelner Gegenstände aus der Insolvenzmasse befugt (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21. April 2005 IX ZR 281/03, BGHZ 163, 32; Lwowski/Peters in MünchKommInsO, 2. Aufl., § 35 Rz 100). Diese müssen mit ausreichender Bestimmtheit bezeichnet sein (vgl. Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 10. April 2008 6 AZR 368/07, BAGE 126, 229). Hieran fehlt es bei einer Freigabe nach § 35 Abs. 2 InsO.
4. Da das FG von anderen Grundsätzen ausgegangen ist, war die Vorentscheidung aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat ‑‑ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt zu Recht‑‑ nicht festgestellt, ob das Fahrzeug zur Insolvenzmasse gehörte. Es hat hierzu zu prüfen, ob das Fahrzeug nach §§ 36 InsO, 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO insolvenzfrei war oder ob dieses Gegenstand einer echten Freigabe durch den Kläger war.