BFH VII. Senat
ZK Art 66, ZK Art 150 Abs 2, ZK Art 220 Abs 2, ZKDV Art 251 Nr 1c, ZKDV Art 508, EWGV 2454/93 Art 251 Nr 1c, EWGV 2454/93 Art 508, EWGV 2913/92 Art 66, EWGV 2913/92 Art 150 Abs 2, EWGV 2913/92 Art 220 Abs 2
vorgehend FG Düsseldorf, 09. Februar 2010, Az: 4 K 2677/09 Z
Leitsätze
1. Die unter den Bedingungen des Art. 150 Abs. 2 ZK mögliche Gewährung vollständiger oder teilweiser Einfuhrabgabenbefreiung für Veredelungserzeugnisse, obwohl eine der Bedingungen oder Verpflichtungen in Verbindung mit dem Verfahren der passiven Veredelung nicht erfüllt ist, setzt voraus, dass die entsprechenden Vormaterialien in das Verfahren der passiven Veredelung übergeführt worden sind .
2. Ist dies nicht der Fall, sondern die Überführung in die passive Veredelung irrtümlich unterblieben, kommt es unter den Voraussetzungen des Art. 251 Nr. 1c Anstrich 2 und Art. 508 ZKDVO in Betracht, die für die Vormaterialien abgegebene Ausfuhranmeldung für ungültig zu erklären und durch eine Anmeldung zur passiven Veredelung zu ersetzen .
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) stellt Damenoberbekleidung her und war im Besitz einer im August 2000 erteilten Bewilligung für die passive Veredelung entsprechender Vormaterialien als Waren der vorübergehenden Ausfuhr zur Verarbeitung zu Bekleidung als Veredelungserzeugnisse. Ohne von dieser Bewilligung Gebrauch zu machen, führte die Klägerin von Juni bis November 2005 in 37 Fällen in Mazedonien hergestellte Damenoberbekleidung in das Zollgebiet der Gemeinschaft ein, die wegen vorgelegter Präferenznachweise zum Zollsatz "frei" abgefertigt wurde.
Nachdem die Klägerin das Hauptzollamt X (HZA X) im Februar 2006 unterrichtet hatte, dass bei fünf der genannten 37 Einfuhren (Anlage 8 zum späteren Prüfungsbericht vom 3. Januar 2008) die Zollpräferenz wegen Verwendung von Stoffen türkischen Ursprungs zu Unrecht in Anspruch genommen worden sei, erhob das HZA X den auf die Einfuhrwaren entfallenden Zoll mit Bescheid vom 8. Februar 2006 nach, wobei es die Abgaben unter Gewährung der für Veredelungserzeugnisse des passiven Veredelungsverkehrs vorgesehenen teilweisen Befreiung von den Einfuhrabgaben (gemäß Art. 150 Abs. 2 des Zollkodex ‑‑ZK‑‑) und in Anwendung der sog. Mehrwertmethode (Art. 153 ZK) festsetzte.
Nach dem Beginn einer Prüfung bei der Klägerin im Oktober 2006 beantragte sie mit Schreiben vom 7. Dezember 2007 die Anwendung des Art. 150 Abs. 2 ZK für sämtliche Einfuhren von Bekleidung aus Mazedonien. Aufgrund der im Prüfungsbericht vom 3. Januar 2008 festgehaltenen Prüfungsergebnisse war der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Hauptzollamt ‑‑HZA‑‑) jedoch der Ansicht, dass der Zoll für alle 37 Einfuhrsendungen (Anlagen 7 und 8 zum Prüfungsbericht) ohne die für Veredelungserzeugnisse des passiven Veredelungsverkehrs vorgeschriebene Abgabenberechnung festzusetzen sei, und erhob mit Bescheid vom 4. Juli 2008 die entsprechenden Einfuhrabgaben nach; die weiteren mit diesem Einfuhrabgabenbescheid festgesetzten Abgaben sind nicht mehr im Streit.
Das Finanzgericht (FG) wies die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage aus den in der Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern (ZfZ) 2010, Beilage 2, 19 veröffentlichten Gründen ab, soweit sich diese gegen die Nacherhebung des Zolls für die in den Anlagen 7 und 8 zum Prüfungsbericht aufgeführten Einfuhren richtet.
Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend, dass Art. 150 Abs. 2 ZK auch in Fällen wie dem Streitfall Anwendung finden könne, in denen die Waren nicht in das Zollverfahren der passiven Veredelung übergeführt worden seien, denn zu den einzuhaltenden Bedingungen für die vollständige oder teilweise Befreiung von Einfuhrabgaben gehöre auch die Überführung der Waren in dieses Zollverfahren. Die Dienstvorschrift zur passiven Veredelung sehe auch Entsprechendes vor, wenn das passive Veredelungsverfahren wegen einer für die Einfuhrware erwarteten Zollpräferenz nicht in Anspruch genommen werde.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist nur insoweit begründet, als die Klage gegen die gemäß Anlage 8 zum Prüfungsbericht festgesetzten Einfuhrabgaben abgewiesen worden ist (3.). Im Übrigen ist die Revision unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Der angefochtene Einfuhrabgabenbescheid ist, soweit er die in der Anlage 7 zum Prüfungsbericht aufgeführten Einfuhren betrifft, rechtmäßig (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).
1. Der erkennende Senat geht mit dem FG davon aus, dass die mit dem angefochtenen Bescheid vom 4. Juli 2008 festgesetzte Einfuhrzollschuld gemäß Art. 201 Abs. 1 Buchst. a ZK durch Überführung der Einfuhrwaren in den zollrechtlich freien Verkehr entstanden ist, weil die seinerzeit zur Erlangung der beantragten Zollpräferenz vorgelegten Warenverkehrsbescheinigungen EUR.1 wegen Verwendung türkischer Ursprungswaren bei der Warenherstellung unrichtig waren, und dass die bei der Einfuhrabfertigung wegen der vorgelegten Präferenzbescheinigung nicht erhobenen Abgaben gemäß Art. 220 Abs. 1 ZK nachzuerheben waren. Gegen die diesbezüglichen Ausführungen des FG in dem angefochtenen Urteil, auf die zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird, erhebt die Revision keine rechtlichen Einwendungen.
2. Das FG hat auch zu Recht entschieden, dass die für wieder eingeführte Veredelungserzeugnisse vorgesehene vollständige oder teilweise Befreiung von den Einfuhrabgaben nicht zu gewähren ist, denn die für die aus Mazedonien eingeführten Textilien verwendeten Vormaterialien sind nicht in das Zollverfahren der passiven Veredelung übergeführt worden. Art. 150 Abs. 2 ZK, der ausnahmsweise auch bei Nichterfüllung der Bedingungen oder Verpflichtungen in Verbindung mit dem Verfahren der passiven Veredelung die vollständige oder teilweise Abgabenbefreiung ermöglicht, sofern die Versäumnisse ohne wirkliche Folgen für das reibungslose Funktionieren des passiven Veredelungsverfahrens geblieben sind, findet daher im Streitfall keine Anwendung.
a) Indem Art. 150 Abs. 2 ZK für die Berechnung der Höhe einer entstandenen Zollschuld vorschreibt, dass die Abgabenbefreiung für Veredelungserzeugnisse im passiven Veredelungsverkehr grundsätzlich nicht zu gewähren ist, wenn Bedingungen oder Verpflichtungen in Verbindung mit diesem Zollverfahren nicht erfüllt werden, jedoch Ausnahmen gestattet, soweit diese Verfehlungen keine wirklichen Folgen für das Verfahren der passiven Veredelung hatten, entspricht er Art. 204 Abs. 1 ZK, der hinsichtlich der Entstehung der Zollschuld in gleicher Weise bei Nichterfüllung der sich aus der vorübergehenden Verwahrung oder aus der Inanspruchnahme eines bestimmten Zollverfahrens ergebenden Pflichten bzw. Fehlen der Voraussetzungen für die Überführung in dieses Zollverfahren die Zollschuld entstehen lässt, es sei denn, dass sich die Verfehlungen nachweislich auf die vorübergehende Verwahrung oder das betreffende Zollverfahren nicht wirklich ausgewirkt haben. Beide Vorschriften geben im Fall für die Entstehung bzw. Höhe der Zollschuld relevanter Verfehlungen dem Zollschuldner die Möglichkeit nachzuweisen, dass die Verfehlung keine Auswirkung auf die ordnungsgemäße Abwicklung des betreffenden Zollverfahrens hatte (so auch: Kielmann in Dorsch, Zollrecht, Art. 150 Rz 6). Ebenso wie bei Art. 204 Abs. 1 ZK sich die Pflichten und Bedingungen, deren Nichterfüllung zur Entstehung der Zollschuld führt, aus der vorübergehenden Verwahrung oder aus der Inanspruchnahme des Zollverfahrens ergeben, in das die Waren übergeführt worden sind (vgl. Witte, Zollkodex, 5. Aufl., Art. 204 Rz 3, 26 f.), ist auch der Wortlaut des Art. 150 Abs. 2 ZK dahin zu verstehen, dass es sich bei den dort genannten Bedingungen und Verpflichtungen um solche handelt, die sich aus der (bereits erfolgten) Inanspruchnahme des Zollverfahrens der passiven Veredelung ergeben (ebenso: Kielmann in Dorsch, a.a.O., Rz 8; Witte, a.a.O., Art. 150 Rz 17; a.A. offenbar: Müller-Eiselt, Der Veredelungsverkehr, I 41/16 f.).
Anders als die Revision meint, wird ihre Auslegung des Art. 150 Abs. 2 ZK durch dessen englische Sprachfassung nicht gestützt. Die englischen Worte "relating to (sich beziehen auf) the outward processing procedure" unterscheiden sich von der deutschen Wendung "in Verbindung mit dem Verfahren der passiven Veredelung" nicht in einer Weise, die es nahe legt, auch die fehlende Überführung von Ausfuhrwaren in das Verfahren der passiven Veredelung als eine nicht erfüllte Bedingung oder Verpflichtung in Verbindung mit diesem Verfahren anzusehen. Darüber hinaus kommt der englischen Sprachfassung auch kein Vorrang zu. Vielmehr ist eine unionsrechtliche Bestimmung, falls ihre Sprachfassungen voneinander abweichen, anhand der allgemeinen Systematik und des Zwecks der Regelung, zu der sie gehört, auszulegen (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ‑‑EuGH‑‑ vom 24. Oktober 1996 C-72/95, Slg. 1996, I-5403).
Der Zweck der Regelung ist es ‑‑wie ausgeführt‑‑, dass im Verfahren der passiven Veredelung auftretende Versäumnisse ausnahmsweise dann keine schädlichen Auswirkungen auf die vollständige oder teilweise Befreiung von den Einfuhrabgaben haben, wenn sie auch ohne negative Auswirkungen auf das Funktionieren des Verfahrens geblieben sind. Unterstützt wird dieses Verständnis durch den Zusammenhang, in dem diese Vorschrift steht. Sie findet sich im Gliederungsabschnitt "III. Durchführung des Verfahrens" (der passiven Veredelung), der Vorschriften über die Bestimmung der Frist zur Wiedereinfuhr der Veredelungserzeugnisse, über die durch die Abgabenbefreiung begünstigte Person sowie über die unterschiedlichen Methoden zur Berechnung der Abgabenbefreiung enthält, die alle einen bereits eröffneten passiven Veredelungsverkehr betreffen. Dementsprechend schreibt Art. 150 Abs. 2 ZK vor, dass die vollständige oder teilweise Befreiung von den Einfuhrabgaben (für notwendigerweise bereits in den passiven Veredelungsverkehr übergeführte Gemeinschaftswaren und daraus hergestellte Veredelungserzeugnisse) nicht gewährt wird, wenn eine der Bedingungen oder Verpflichtungen in Verbindung mit diesem Verfahren nicht erfüllt ist. Dass außerdem für Waren, die sich gar nicht im Zollverfahren der passiven Veredelung befinden, keine vollständige oder teilweise Befreiung von den Einfuhrabgaben nach den Vorschriften über den passiven Veredelungsverkehr gewährt werden kann, ist eine Selbstverständlichkeit, die keiner ausdrücklichen Erwähnung bedurfte. Soweit also Art. 150 Abs. 2 ZK von seiner Rechtsfolge der Versagung der Abgabenbefreiung eine Ausnahme vorsieht, falls Versäumnisse ohne wirkliche Folgen für das Funktionieren des Verfahrens geblieben sind, bezieht er sich auf unterlaufene Versäumnisse in einem bereits eröffneten Verfahren der passiven Veredelung und gestattet keine Abgabenbefreiung für Veredelungserzeugnisse, deren Vormaterialien nicht als Waren der vorübergehenden Ausfuhr in das Zollverfahren der passiven Veredelung übergeführt worden sind (ebenso: Witte, a.a.O., Art. 150 Rz 17; sowie Berufungsentscheidung des österreichischen unabhängigen Finanzsenats vom 12. November 2004 ZRV/0002-Z2L/02; und nachgehend: Erkenntnis des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs vom 18. Dezember 2006 2004/16/0279).
Welche Versäumnisse im Verfahren der passiven Veredelung als solche angesehen werden können, die ohne Folgen für das reibungslose Funktionieren des Verfahrens geblieben sind, machen die in Abs. 96 der Dienstvorschrift "Passive Veredelung" (Vorschriftensammlung der Bundesfinanzverwaltung Z 16 01) genannten Beispiele deutlich (vgl. auch: Deimel, Heilung von Verfehlungen im Zusammenhang mit der passiven Veredelung nach Art. 150 Abs. 2 ZK, ZfZ 2011, 92). Wenn es in Abs. 94 Unterabs. 3 dieser Dienstvorschrift heißt, dass eine Heilung über Art. 150 Abs. 2 ZK bewirkt werden könne, soweit wegen der erwarteten Begünstigung der Einfuhr aufgrund der Ausstellung von Präferenznachweisen eine Überführung in die passive Veredelung nicht stattgefunden habe, kann dem aus den vorgenannten Gründen nicht gefolgt werden. Es mag verschiedene Ursachen dafür geben, weshalb Gemeinschaftswaren, welche in Drittländern be- oder verarbeitet werden sollen, nicht in das Zollverfahren der passiven Veredelung übergeführt werden. Weshalb einer der insoweit denkbaren Gründe, nämlich eine für die wieder eingeführten Veredelungserzeugnisse erwartete Zollpräferenz, zu privilegieren ist, indem in einem solchen Fall die Ausnahmeregelung in Art. 150 Abs. 2 ZK zur Anwendung gelangt, ist nicht erkennbar.
Der Senat hält es für zweifelsfrei, dass Art. 150 Abs. 2 ZK nicht im Sinne der Auffassung der Revision ausgelegt werden kann und sieht deshalb keine Verpflichtung, die Sache dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen (vgl. EuGH-Urteil vom 6. Oktober 1982 283/81 ‑‑CILFIT‑‑, Slg. 1982, 3415, 3430).
b) Wenn somit für Waren, die in ein Drittland ausgeführt wurden und in veredelter Form wieder in das Zollgebiet der Union eingeführt werden, deren Überführung in das Verfahren der passiven Veredelung versäumt wurde, so lässt sich dieses Versäumnis nur durch eine Ungültigerklärung der Ausfuhranmeldung und ihre Ersetzung durch eine Anmeldung zur passiven Veredelung bereinigen. Das Unionsrecht sieht mit den Vorschriften der Art. 66 ZK i.V.m. Art. 251 Nr. 1c Anstrich 2 und Art. 508 der Zollkodex-Durchführungsverordnung (ZKDVO) unter den dort beschriebenen Voraussetzungen die Möglichkeit einer rückwirkenden Bewilligung eines Zollverfahrens mit wirtschaftlicher Bedeutung mit anschließender Ungültigerklärung der irrtümlich abgegebenen Zollanmeldung vor, wenn der Zollbeteiligte im Zeitpunkt der Warenausfuhr nicht im Besitz einer solchen Bewilligung war (vgl. dazu auch Beispiel Nr. 5 zu Art. 508 Abs. 3 ZKDVO der Leitlinien der Kommission in Verbindung mit Titel III "Zollverfahren mit wirtschaftlicher Bedeutung" (...), Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 2001 Nr. C 269/1).
Soweit in der Literatur die Ansicht vertreten wird, diese Vorschriften seien auch zur Bereinigung solcher Fälle (wie dem Streitfall) entsprechend anzuwenden, in denen die Bewilligung eines passiven Veredelungsverkehrs erteilt wurde, ihr Inhaber es aber gleichwohl irrtümlich (z.B. in Erwartung einer späteren Einfuhrabfertigung zum Präferenzzollsatz) unterlassen hat, Waren der vorübergehenden Ausfuhr zur Überführung in die passive Veredelung anzumelden, (Witte, a.a.O., Art. 150 Rz 18; ebenso Witte/Henke, a.a.O., Art. 85 Rz 31), handelt es sich nicht um eine Auslegung des Art. 150 Abs. 2 ZK, sondern um eine mit dem Argument des Erst-recht-Schlusses begründete Anwendung der Art. 251 Nr. 1c Anstrich 2 und Art. 508 ZKDVO (so Witte, a.a.O., Art. 150 Rz 17, der es für die Anwendung des Art. 150 Abs. 2 ZK als unverzichtbar ansieht, dass die Vormaterialien wirksam in das Verfahren der passiven Veredelung übergeführt worden sind).
Folgt man dieser Auffassung, sind aber jedenfalls auch für diese Fälle einer bereits vorliegenden Bewilligung des passiven Veredelungsverkehrs die Voraussetzungen des entsprechend anzuwendenden Art. 508 ZKDVO zu beachten, denn es besteht kein Grund, den Zollbeteiligten, der von einer ihm erteilten Bewilligung eines passiven Veredelungsverkehrs bei der Ausfuhr der Vormaterialien keinen Gebrauch macht, hinsichtlich einer nachträglichen "Umstellung" seiner Ausfuhr auf einen passiven Veredelungsverkehr besserzustellen als denjenigen, der im Zeitpunkt der Ausfuhr nicht im Besitz einer Bewilligung war (vgl. Witte/Henke, a.a.O., Art. 85 Rz 31, 32; ebenso: Witte, a.a.O., Art. 150 Rz 18, der auf das Nichtvorliegen betrügerischer Absicht oder grober Fahrlässigkeit gemäß Art. 508 Abs. 3 Buchst. a ZKDVO hinweist).
c) Im Streitfall kommt danach für die von der Anlage 7 zum Prüfungsbericht erfassten Einfuhren auch bei entsprechender Anwendung des Art. 508 ZKDVO eine teilweise Befreiung von den Einfuhrabgaben für Veredelungserzeugnisse des passiven Veredelungsverkehrs nicht in Betracht, weil die mögliche Rückwirkung einer solchen Bewilligung den Zeitraum, in dem die jeweiligen Vormaterialien ausgeführt wurden, nicht erfasst.
Hinsichtlich der zeitlichen Reichweite einer rückwirkenden Bewilligung ist Art. 508 ZKDVO dreistufig aufgebaut (Witte/ Henke, a.a.O., Art. 85 Rz 28 ff.): Die Bewilligung wird frühestens ab dem Datum der Vorlage des Antrags auf Erteilung der Bewilligung wirksam (Art. 508 Abs. 1 Unterabs. 2 ZKDVO). Im Fall einer vorausgegangenen, aber abgelaufenen Bewilligung kann die erneuerte Bewilligung mit Rückwirkung bis zu dem Zeitpunkt, an dem die vorausgegangene unwirksam wurde, erteilt werden (Art. 508 Abs. 2 ZKDVO). In jedem Fall, also auch in dem des vorgenannten Abs. 2, kann sich aber die Rückwirkung ausnahmsweise nur auf einen Zeitraum von längstens einem Jahr vor dem Zeitpunkt der Antragstellung erstrecken, sofern eine wirtschaftliche Notwendigkeit nachgewiesen wird (Art. 508 Abs. 3 ZKDVO).
Da im Streitfall der (einem Antrag gemäß Art. 508 ZKDVO entsprechende) Antrag der Klägerin vom 7. Dezember 2007 stammt, werden auch bei entsprechender Anwendung des Art. 508 Abs. 3 ZKDVO alle streitigen Ausfuhren gemäß Anlage 7 zum Prüfungsbericht von der nach dieser Vorschrift längstmöglichen Rückwirkung nicht erfasst. Die Frage, ob die übrigen in Art. 508 Abs. 3 ZKDVO genannten Voraussetzungen im Streitfall erfüllt sind ‑‑was insbesondere hinsichtlich der Voraussetzungen gemäß Art. 508 Abs. 3 Buchst. a und c ZKDVO zweifelhaft erscheint‑‑, bedarf daher keiner Entscheidung.
3. Der Senat hat erwogen, ob hinsichtlich der fünf Einfuhren der Anlage 8 zum Prüfungsbericht die Unterrichtung des HZA X im Februar 2006 über die insoweit zu Unrecht in Anspruch genommene Zollpräferenz als ein dem Antrag gemäß Art. 508 ZKDVO entsprechender Antrag auf Berechnung der Abgaben nach dem Verfahren der passiven Veredelung angesehen werden kann, so dass die betroffenen Ausfuhren der Vormaterialien evtl. noch innerhalb der rückwirkenden Jahresfrist des Art. 508 Abs. 3 ZKDVO liegen könnten. Wäre dies der Fall und sähe man die übrigen Voraussetzungen dieser Vorschrift als erfüllt an, hätte das HZA X die Einfuhrabgaben für die fünf Einfuhren in zutreffender Höhe buchmäßig erfasst, so dass weitere Abgaben nicht ‑‑wie mit dem angefochtenen Bescheid vom 4. Juli 2008 geschehen‑‑ hätten nacherhoben werden können. Wäre dies nicht der Fall, stünde der Nacherhebung jedenfalls Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ZK entgegen, weil dann die buchmäßige Erfassung der Einfuhrabgaben mit einem geringeren als dem geschuldeten Betrag auf einem Irrtum des HZA X beruhte, der von der Klägerin vernünftigerweise nicht erkannt werden konnte, da die Anwendung des Art. 150 Abs. 2 ZK auf Fälle der vorliegenden Art seinerzeit nicht geklärt war und nach der Dienstvorschrift "Passive Veredelung" sogar als zulässig anzusehen war.
Die Nacherhebung der Einfuhrabgaben gemäß Anlage 8 zum Prüfungsbericht ist somit in jedem Fall rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).