BFH V. Senat
UStG § 3 Abs 1, UStG § 3 Abs 9, UStG § 12 Abs 2 Nr 1, EWGRL 388/77 Art 5 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 6 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 12 Abs 3 Buchst a Anh H
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 20. August 2008, Az: 5 K 428/07
Leitsätze
Die Abgabe von Bratwürsten, Pommes frites und ähnlichen standardisiert zubereiteten Speisen an einem nur mit behelfsmäßigen Verzehrvorrichtungen ausgestatteten Imbissstand ist eine einheitliche Leistung, die als Lieferung dem ermäßigten Steuersatz unterliegt (Nachfolgeentscheidung zum EuGH-Urteil vom 10. März 2011 C-497/09, C-499/09, C-501/09, C-502/09, Bog u.a., UR 2011, 272) .
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob die Umsätze des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) dem ermäßigten Umsatzsteuersatz unterliegen.
Der Kläger verkaufte im Streitjahr (2004) auf Wochenmärkten in drei gleichartigen Imbisswagen verzehrfertig zubereitete Speisen (insbesondere verschiedene Würste, Pommes frites) und Getränke. Die Imbisswagen verfügten über eine Verkaufstheke mit Spritzschutz aus Glas und ein darunter angebrachtes umlaufendes "Brett" aus Resopal, das zum Verzehr der Speisen an Ort und Stelle genutzt werden konnte. Seitlich befand sich als Fortsetzung der umlaufenden "Verzehrtheke" über der Deichsel eine herausklappbare "Zunge". Der Bereich, in dem sich Kunden zum Verzehr aufhalten können, war durch ein herausklappbares Dach vor Regen geschützt.
In seiner Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr unterwarf der Kläger die Umsätze aus dem Verkauf von Getränken dem Regelsteuersatz, die Umsätze aus dem Verkauf von Speisen dagegen dem ermäßigten Steuersatz. Im Rahmen einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung kam der Prüfer zu dem Ergebnis, dass die Kunden des Klägers die Waren in der Regel an Ort und Stelle verzehrten. Da der Kläger keine Angaben zum Umfang des Verzehrs an den Imbisswagen gemacht habe, seien die Umsätze zum Regelsteuersatz auf 70 v.H. zu schätzen.
Aufgrund des Ergebnisses der Prüfung änderte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) am 27. Dezember 2006 nach § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung den Umsatzsteuerbescheid für 2004 und setzte die Umsatzsteuer auf 3.919,05 € fest. Der Einspruch des Klägers blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Zur Begründung seines in "Entscheidungen der Finanzgerichte" 2009, 144 veröffentlichten Urteils führte es im Wesentlichen aus: Entscheidend sei für die Abgrenzung, ob das Dienstleistungselement qualitativ überwiege.
Der Kläger habe zwar Verzehrvorrichtungen bereitgestellt, die dazu geeignet und bestimmt gewesen seien, Kunden den Verzehr der Speisen an Ort und Stelle zu ermöglichen. Inwieweit "Verzehrvorrichtungen" an einem Imbisswagen tatsächlich von der Kundschaft zum Verzehr an Ort und Stelle genutzt würden, sei unerheblich, weil sonst die Höhe des Steuersatzes von einem Verhalten des Kunden nach Ausführung des Umsatzes abhänge.
Im Streitfall handele es sich um Lieferungen, denn neben der Zubereitung der Speisen habe der Kläger nur überdachte Ablageflächen an seinem Imbissstand bereitgehalten, auf denen die Speisen zum Verzehr abgestellt werden könnten und Abfalleimer zur Verfügung gestellt. Andere Dienstleistungselemente, die für Restaurationsleistungen charakteristisch seien (Bedienung, Sitzgelegenheit, geschlossene und temperierte Räume bzw. ansprechende Verzehrgelegenheiten im Freien, Vorhandensein von Garderobe und Toiletten usw.), fehlten dagegen.
Mit der vom FG zugelassenen Revision macht das FA geltend, das FG habe § 12 Abs. 2 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes 1999 (UStG) verletzt, weil die Lieferungen mit Leistungen (Zubereitung der Nahrungsmittel zu Speisen und Vorhalten von überdachten Verzehrvorrichtungen) verbunden gewesen seien, die über die bloße Vermarktung hinausgegangen seien.
Das FA beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Der Senat hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
"1. Handelt es sich um eine Lieferung i.S. von Art. 5 der Richtlinie 77/388/EWG, wenn zum sofortigen Verzehr zubereitete Speisen oder Mahlzeiten abgegeben werden?
2. Kommt es für die Beantwortung der Frage 1 darauf an, ob zusätzliche Dienstleistungselemente erbracht werden (Bereitstellung von Verzehrvorrichtungen)?
3. Falls die Frage zu 1 bejaht wird: Ist der Begriff 'Nahrungsmittel' im Anhang H Kategorie 1 der Richtlinie 77/388/EWG dahin auszulegen, dass darunter nur Nahrungsmittel 'zum Mitnehmen' fallen, wie sie typischerweise im Lebensmittelhandel verkauft werden, oder fallen darunter auch Speisen oder Mahlzeiten, die ‑‑durch Kochen, Braten, Backen oder auf sonstige Weise‑‑ zum sofortigen Verzehr zubereitet worden sind?"
Der EuGH hat in seinem Urteil vom 10. März 2011 C-497/09, C-499/09, C-501/09, C-502/09, Bog u.a. (Umsatzsteuer-Rundschau ‑‑UR‑‑ 2011, 272) die Fragen wie folgt beantwortet:
"1. Die Art. 5 und 6 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 92/111/EWG des Rates vom 14. Dezember 1992 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass
- die Abgabe frisch zubereiteter Speisen oder Nahrungsmittel zum sofortigen Verzehr an Imbissständen oder -wagen oder in Kino-Foyers eine Lieferung von Gegenständen im Sinne des genannten Art. 5 ist, wenn eine qualitative Prüfung des gesamten Umsatzes ergibt, dass die Dienstleistungselemente, die der Lieferung der Nahrungsmittel voraus- und mit ihr einhergehen, nicht überwiegen;
...
2. Bei Lieferung von Gegenständen ist der Begriff 'Nahrungsmittel' in Anhang H Kategorie 1 der durch die Richtlinie 92/111 geänderten Sechsten Richtlinie 77/388 dahin auszulegen, dass er auch Speisen oder Mahlzeiten umfasst, die durch Kochen, Braten, Backen oder auf sonstige Weise zum sofortigen Verzehr zubereitet worden sind."
Die Beteiligten haben im Anschluss an das EuGH-Urteil auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des FA ist unbegründet; sie war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
Zu Recht hat das FG entschieden, dass die vom Kläger ausgeführten Umsätze gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG dem ermäßigten Steuersatz unterliegen. Bei der Abgabe der verzehrfertigen Speisen durch den Kläger an seine Kunden hat es sich um Lieferungen von in der Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG bezeichneten Gegenständen gehandelt.
1. Nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG ermäßigt sich die Steuer auf 7 v.H. für die Lieferung der in der Anlage bezeichneten Gegenstände. Dazu gehören u.a. "Zubereitungen von Fleisch ..." (Nr. 28), "Zubereitungen aus Getreide, Mehl, Stärke oder Milch; Backwaren" (Nr. 31) und "verschiedene Lebensmittelzubereitungen" (Nr. 33). Damit hat der nationale Gesetzgeber von dem ihm in Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 3, Anhang H Nr. 1 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) eingeräumten Ermessen hinsichtlich der Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes Gebrauch gemacht. Nach Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG können die Mitgliedstaaten einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden. Diese ermäßigten Steuersätze "... sind nur auf Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der in Anhang H genannten Kategorien anwendbar".
In Anhang H Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG sind genannt:
"Nahrungs- und Futtermittel (einschließlich Getränke, alkoholische Getränke jedoch ausgenommen), lebende Tiere, Saatgut, Pflanzen und üblicherweise für die Zubereitung von Nahrungs- und Futtermitteln verwendete Zutaten, üblicherweise als Zusatz oder Ersatz für Nahrungs- und Futtermittel verwendete Erzeugnisse."
a) Lieferungen sind nach § 3 Abs. 1 UStG Leistungen, durch die der Unternehmer den Abnehmer befähigt, im eigenen Namen über einen Gegenstand zu verfügen (Verschaffung der Verfügungsmacht). Nicht begünstigt sind sonstige Leistungen. Eine sonstige Leistung ist nach § 3 Abs. 9 Satz 4 UStG die Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle. Speisen und Getränke werden zum Verzehr an Ort und Stelle abgegeben, wenn sie nach den Umständen der Abgabe dazu bestimmt sind, an einem Ort verzehrt zu werden, der mit dem Abgabeort in einem räumlichen Zusammenhang steht, und besondere Vorrichtungen für den Verzehr an Ort und Stelle bereitgehalten werden (§ 3 Abs. 9 Satz 5 UStG).
b) Die Abgabe von Bratwürsten, Pommes frites und ähnlichen standardisiert zubereiteten Speisen an einem mit behelfsmäßigen Verzehrvorrichtungen ausgestatteten Imbissstand ist eine einheitliche Leistung (vgl. EuGH-Urteil Bog u.a. in UR 2011, 272 Rdnr. 56; Urteile des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 18. Dezember 2008 V R 55/06, BFHE 223, 539, BFH/NV 2009, 673; vom 1. April 2009 XI R 3/08, BFH/NV 2009, 1469), die eine Lieferung ist und gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Nrn. 28, 31 und 33 der Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG dem ermäßigten Steuersatz unterliegt.
aa) Bei der Abgrenzung zwischen Lieferung und Dienstleistung ist auf die Sicht des Durchschnittsverbrauchers abzustellen. Maßgebend ist eine Gesamtbetrachtung aller Umstände, unter denen der Umsatz erfolgt. Im Rahmen dieser Gesamtbetrachtung ist "die qualitative und nicht nur quantitative Bedeutung der Dienstleistungselemente im Vergleich zu den Elementen einer Lieferung von Gegenständen zu bestimmen" (EuGH-Urteil Bog u.a. in UR 2011, 272 Rdnr. 62; BFH-Urteile vom 18. Februar 2009 V R 90/07, BFHE 225, 210, BFH/NV 2009, 1551; vom 26. Oktober 2006 V R 59/04, BFHE 215, 360, BStBl II 2007, 487, m.w.N., und vom 10. August 2006 V R 55/04, BFHE 214, 474, BStBl II 2007, 480, m.w.N.).
bb) Zu der Frage, ob die einheitliche Leistung bei der Abgabe standardisiert zubereiteter, verzehrfertiger Speisen an mit behelfsmäßigen Verzehrvorrichtungen ausgestatteten Imbissständen als Lieferung oder als Dienstleistung einzustufen ist, hat der EuGH auf das zu dem das vorliegende Verfahren betreffenden Vorabentscheidungsersuchen C-497/09 entschieden, dass die Lieferung von Speisen oder Mahlzeiten zum sofortigen Verzehr das überwiegende Element der betreffenden Umsätze darstellt, wenn die Dienstleistungselemente nur in der Bereitstellung behelfsmäßiger Vorrichtungen bestehen, d.h. "ganz einfacher Verzehrtheken ohne Sitzgelegenheit, um einer beschränkten Zahl von Kunden den Verzehr an Ort und Stelle im Freien zu ermöglichen. Solche behelfsmäßigen Vorrichtungen erfordern nur einen geringfügigen personellen Einsatz. Unter diesen Umständen stellen diese Elemente nur geringfügige Nebenleistungen dar und können am dominierenden Charakter der Hauptleistung, d.h. dem einer Lieferung von Gegenständen, nichts ändern" (Rdnr. 70 des EuGH-Urteils Bog u.a. in UR 2011, 272). "Ob die Kunden die genannten behelfsmäßigen Vorrichtungen benutzen, ist ohne Bedeutung, da der sofortige Verzehr an Ort und Stelle, der kein wesentliches Merkmal des betreffenden Umsatzes darstellt, nicht für dessen Natur bestimmend sein kann" (Rdnr. 74 des EuGH-Urteils Bog u.a. in UR 2011, 272).
cc) Der Anwendung dieser Grundsätze im Streitfall steht die Regelung in § 3 Abs. 9 Sätze 4 und 5 UStG nicht entgegen. Nach ständiger Rechtsprechung hat das innerstaatliche Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewandt lässt (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 19. November 2009 C-314/08, Filipiak, Slg. 2009, I-11049, BFH/NV 2010, 136 Rdnrn. 81, 82, m.w.N.; BFH-Urteile vom 17. Juli 2008 X R 62/04, BFHE 222, 428, BStBl II 2008, 136, unter II.2.a; vom 22. Juli 2008 VIII R 101/02, BFHE 222, 453, BStBl II 2010, 265, unter IV.1.). Für die Anwendung des § 3 Abs. 9 Sätze 4 und 5 UStG bedeutet dies, dass soweit die Vorschrift nicht richtlinienkonform ist, die unionsrechtlichen Grundsätze zur Abgrenzung Lieferung und sonstige Leistung maßgebend sind (BFH-Urteil in BFHE 223, 539, BFH/NV 2009, 673, unter II.4.a, m.w.N.) und dabei die vorstehende EuGH-Rechtsprechung zu beachten ist.
2. Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das FG zu Recht entschieden, dass es sich bei dem Verkauf verzehrfertiger Speisen durch den Kläger um Lieferungen gehandelt hat, weil er keine über die einfache, standardisierte Zubereitung von Lebensmitteln und die Bereitstellung behelfsmäßiger Vorrichtungen hinausgehende Leistungen gegenüber seinen Kunden erbracht hat.
3. Die streitigen Umsätze des Klägers unterliegen gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG dem ermäßigten Steuersatz, weil die von ihm gelieferten Lebensmittel in der Anlage zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG bezeichnet sind (Zubereitungen von Fleisch usw. ‑‑Nr. 28‑‑, aus Getreide, Mehl, Stärke oder Milch sowie Backwaren ‑‑Nr. 31‑‑, Zubereitungen von Gemüse, Früchten usw. ‑‑Nr. 32‑‑ oder verschiedene Lebensmittelzubereitungen ‑‑Nr. 33‑‑). Aus dem 2. Leitsatz des EuGH-Urteils Bog u.a. in UR 2011, 272 ergibt sich, dass dies im Einklang mit Anhang H der Richtlinie 77/388/EWG steht, weil Anhang H auch Speisen oder Mahlzeiten umfasst, die durch Kochen, Braten, Backen oder auf sonstige Weise zum sofortigen Verzehr zubereitet worden sind.