BFH II. Senat
AO § 174 Abs 4, AO § 174 Abs 5 S 2, FGO § 60 Abs 1, FGO § 60 Abs 3
vorgehend FG Münster, 19. April 2010, Az: 3 K 1331/01 Erb
Leitsätze
NV: Als "bestimmter Sachverhalt" i.S. des § 174 Abs. 4 und 5 AO ist ein einheitlicher Lebensvorgang anzusehen, aus dem steuerrechtliche Folgerungen sowohl beim Steuerpflichtigen als auch bei einem Dritten zu ziehen sind. Es genügt, dass derselbe Sachverhalt bei mehreren Steuerpflichtigen erfasst und irrig beurteilt worden ist .
Tatbestand
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) sowie ihr Bruder (B) sind die beiden Miterben nach ihrer 1994 verstorbenen Mutter. Diese hatte wesentliche Teile ihres Vermögens (Grundbesitz, Gesellschaftsbeteiligungen) testamentarisch den Kindern jeweils konkret zugeordnet und zugleich den Willen bekundet, keinen zu bevorzugen sowie eine "Gleichstellung" zu erreichen. Das Nachlassgericht erteilte einen Erbschein, wonach die Geschwister Miterben je zur Hälfte seien.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) setzte gegen die Klägerin eine nach der Hälfte des Nachlasswerts bemessene Erbschaftsteuer fest. Zwischen den Miterben war es allerdings zu einem Zivilrechtsstreit darüber gekommen, ob die Klägerin durch die Nachlassteilung weniger als die Hälfte erhalten habe. Der Rechtsstreit endete mit einem Vergleich, wonach B der Klägerin einen Ausgleichsbetrag zu zahlen hatte.
Die Klägerin hat den gegen sie ergangenen Steuerbescheid mit der Begründung angefochten, sie habe wertmäßig weniger als die Hälfte des nach Verkehrswerten bewerteten Nachlasses erworben, so dass ihre Erbquote laut Erbschein nicht zugrunde zu legen sei. Zu diesem Finanzrechtsstreit lud das Finanzgericht (FG) gemäß § 60 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) B bei. Auf die Beschwerde der Klägerin hob allerdings der Bundesfinanzhof (BFH) den Beiladungsbeschluss durch Beschluss vom 18. Dezember 2009 II B 165/09 (BFH/NV 2010, 677) auf. Zur Begründung führte er aus, verfahrensrechtlich sei die Steuerschuld jedes Erwerbers selbständig. Es gebe außerhalb des Bereichs der Haftung kein streitiges Rechtsverhältnis derart, dass die Entscheidung mehreren an dem Erbfall Beteiligten gegenüber i.S. des § 60 Abs. 3 FGO nur einheitlich ergehen könne, sofern diese nicht ihrerseits bürgerlich-rechtlich verbunden seien. Da das FG demgegenüber angenommen habe, die Voraussetzungen einer notwendigen Beiladung lägen vor, habe es sein Ermessen, eine einfache Beiladung i.S. des § 60 Abs. 1 FGO zu beschließen, nicht ausgeübt.
Mit Beschluss vom 20. April 2010 hat das FG B erneut beigeladen. Es hat dazu ausgeführt, das FA habe seinen Antrag nach § 174 Abs. 5 der Abgabenordnung (AO) i.V.m. § 60 Abs. 1 FGO aufrechterhalten und es erfolge die Beiladung nach § 174 Abs. 5 Satz 2 AO. Danach sei eine Beiladung unabhängig von den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 FGO zulässig, wenn ein Steuerbescheid i.S. des § 174 Abs. 4 AO wegen irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts möglicherweise aufzuheben oder zu ändern sei. Insoweit genüge es, wenn eine Folgeänderung nicht auszuschließen sei.
Die Klägerin hält die Voraussetzungen für eine Beiladung weiterhin für nicht gegeben. Der Beschwerde der Klägerin hat das FG nicht abgeholfen.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist unbegründet und war daher zurückzuweisen.
1. Das FG hat die Beiladung des B zu Recht auf § 174 Abs. 5 Satz 2 AO gestützt.
a) Nach § 174 Abs. 4 Satz 1 AO können in dem Fall, dass auf Grund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen ist, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden. Dies gilt ausweislich der Regelung in § 174 Abs. 5 Satz 1 AO auch gegenüber Dritten, wenn sie an dem Verfahren, das zur Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids geführt hat, beteiligt waren. § 174 Abs. 5 Satz 2 AO sieht dazu vor, dass die Beiladung des Dritten zu diesem Verfahren zulässig ist. Eine Beiladung nach § 174 Abs. 5 Satz 2 AO setzt danach voraus, a) dass ein Steuerbescheid möglicherweise wegen irriger Beurteilung eines Sachverhalts aufzuheben oder zu ändern ist, b) dass hieraus sich möglicherweise steuerliche Folgerungen für einen Dritten durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheides ziehen lassen und c) dass das FA die Beiladung veranlasst und beantragt hat (BFH-Beschluss vom 18. September 2001 V B 227/00, BFH/NV 2002, 158, m.w.N.).
b) Als "bestimmter Sachverhalt" i.S. des § 174 Abs. 4 und Abs. 5 AO ist ein einheitlicher Lebensvorgang anzusehen, aus dem steuerrechtliche Folgerungen sowohl bei dem Steuerpflichtigen als auch bei dem Dritten zu ziehen sind. Es genügt, dass derselbe Sachverhalt bei mehreren Steuerpflichtigen erfasst und irrig beurteilt worden ist (BFH-Urteil vom 18. September 2003 X R 152/97, BFHE 203, 337, BStBl II 2007, 749). Wird die rechtliche Beurteilung zugunsten des einen Steuerpflichtigen richtiggestellt, so kann im Rahmen des § 174 Abs. 4 AO i.V.m. § 174 Abs. 5 AO grundsätzlich auch bei dem anderen Steuerpflichtigen durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die entsprechende, richtige steuerliche Folgerung gezogen werden (BFH-Urteil in BFHE 203, 337, BStBl II 2007, 749). Nach einer Richtigstellung der rechtlichen Beurteilung zugunsten des einen Steuerpflichtigen kann damit korrespondierend aus dem einheitlichen Lebenssachverhalt die richtige Folgerung auch bei dem anderen Steuerpflichtigen im Wege der Änderung seiner bestandskräftigen Steuerfestsetzung gezogen werden. § 174 Abs. 4 und Abs. 5 AO gewährleisten somit, dass ein und derselbe Sachverhalt, der sich bei zwei verschiedenen Steuerpflichtigen auswirkt, auch bei beiden gleich beurteilt werden kann (BFH-Urteile in BFHE 203, 337, BStBl II 2007, 749; vom 18. Februar 2009 V R 81/07, BFHE 225, 193, BStBl II 2010, 109).
c) Im Streitfall liegen die vorgenannten Voraussetzungen für eine Beiladung nach § 174 Abs. 5 Satz 2 AO vor. Es besteht aufgrund des von der Klägerin angestrengten Klageverfahrens die Möglichkeit, dass sie mit ihrer Auffassung durchdringt, dass der Wert ihres Erwerbs von Todes wegen nicht unter Berücksichtigung einer Erbquote von ½, sondern nach dem ihr tatsächlich zugeflossenen Vermögen unter Berücksichtigung des am 14. August 2008 geschlossenen Vergleichs zu ermitteln ist. Dies wiederum kann dazu führen, dass das FA gegenüber dem Beigeladenen entsprechende erbschaftsteuerliche Folgen zieht. Das FA hat im Übrigen die Beiladung des B beantragt. Dass es sich dabei statt alleine auf § 174 Abs. 5 Satz 2 AO fehlerhaft auch auf § 60 Abs. 1 FGO gestützt hat, weil ein nach § 174 Abs. 5 Satz 2 AO am Verfahren Beteiligter die Rechtsstellung eines notwendig Beigeladenen erlangt (vgl. BFH-Urteil vom 25. August 1987 IX R 98/82, BFHE 151, 506, BStBl II 1988, 344), ist unschädlich, da das FG die von ihm vorgenommene Beiladung unter Auslegung des Antrags des FA zu Recht alleine auf § 174 Abs. 5 Satz 2 AO gestützt hat.
2. Eine Kostenentscheidung ist nicht zu treffen, da die Entscheidung über die Beiladung in einem unselbständigen Zwischenverfahren ergeht (§ 143 Abs. 1 FGO) und die Kosten dieses Nebenverfahrens mit denen des Hauptverfahrens eine Einheit bilden (vgl. BFH-Beschluss vom 19. Februar 2004 IX B 3/03, BFH/NV 2004, 918, m.w.N.).