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Urteil vom 30. Juni 2010, II R 14/09

Änderung eines Einheitswertbescheids wegen neuer Tatsachen - Anforderungen an die Annahme des Vorsatzes bei Steuerhinterziehung

BFH II. Senat

AO § 173 Abs 1 Nr 1, GrStG § 3 Abs 1 S 1 Nr 3 Buchst b, AO § 370 Abs 1, FGO § 118 Abs 2, BewG § 22 Abs 4, FGO § 96 Abs 1 S 1

vorgehend FG Düsseldorf, 13. November 2008, Az: 11 K 3180/07 BG

Leitsätze

1. NV: Ein Einheitswertbescheid, in dem wegen einer angenommenen Grundsteuerbefreiung ein Teil des Grundstücks nicht bewertet wurde, kann nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert werden, wenn dem FA nachträglich Tatsachen bekannt werden, die am letzten Feststellungszeitpunkt einer steuerbefreiten Nutzung entgegenstanden .

2. NV: Für die Annahme des Vorsatzes bei einer Steuerhinterziehung reicht es aus, wenn der Täter die Verwirklichung der Merkmale des objektiven Tatbestands zumindest billigend in Kauf nimmt und im Wege einer Parallelwertung in der Laiensphäre erkennt .

Tatbestand

  1. I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist ein rechtsfähiger Verein, der in Deutschland lebenden Menschen islamischen Glaubens die Möglichkeit zu ihrer Religionsausübung bietet. Nach seiner Satzung dient er ausschließlich und unmittelbar gemeinnützigen Zwecken im Sinne der Abgabenordnung (AO).

  2. Der Kläger erwarb im Jahr 1998 ein in X belegenes Geschäftsgrundstück, das er anschließend im Wege der Nutzungsänderung in ein kulturell-religiöses Zentrum umwandelte. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) rechnete dem Kläger mit Einheitswertbescheid vom 20. November 1998 das Grundstück zum 1. Januar 1999 zu. Mit Schreiben vom 26. November 1998 wies der Kläger das FA darauf hin, dass das Grundstück teilweise für gemeinnützige Zwecke genutzt werde. Hierzu legte er den Freistellungsbescheid 1994 bis 1996 und die Freistellungsbescheinigung 1999 bis 2001 des Sitzfinanzamts vor. Das FA stellte daraufhin durch Bescheid vom 7. Mai 1999 den Einheitswert auf den 1. Januar 1999 im Wege der Wert- und Artfortschreibung auf 143.600 DM sowie die Grundstücksart "gemischtgenutztes Grundstück" fest. Das FA nahm hierbei an, dass ein Teil der wirtschaftlichen Einheit wegen der Nutzung zu gemeinnützigen Zwecken nicht mehr der Besteuerung unterliege.

  3. Im Jahr 2006 wurde dem FA durch eine Kontrollmitteilung bekannt, dass der Kläger aufgrund des Ergebnisses einer bei ihm durchgeführten Außen- und Fahndungsprüfung bereits ab 1997 nicht mehr ausschließlich gemeinnützig tätig war und deshalb ab 1997 die Voraussetzungen für die Grundsteuerbefreiung gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. b des Grundsteuergesetzes (GrStG) nicht mehr erfüllte. Verantwortliche des Klägers hatten gegenüber dem Sitzfinanzamt und dem für die Einheitsbewertung zuständigen FA die für die Aberkennung der Gemeinnützigkeit maßgeblichen Tatsachen (fehlende ordnungsmäßige Aufzeichnungen im Zusammenhang mit der Veranstaltung von Pilgerreisen, der Unterhaltung eines Sterbefonds sowie Lebensmittelverkäufen; Vorhandensein inoffizieller Kassenaufzeichnungen sowie nicht der Besteuerung unterworfener Lohnzahlungen) verschwiegen.

  4. Daraufhin änderte das FA den Fortschreibungsbescheid auf den 1. Januar 1999 vom 7. Mai 1999 gemäß § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO durch Bescheid vom 12. Dezember 2006, stellte den Einheitswert auf 175.679 € fest und bezog dabei die zuvor wegen gemeinnütziger Nutzung nicht bewerteten Räume in die Wertermittlung ein.

  5. Einspruch und Klage, mit denen der Kläger nunmehr die Steuerbefreiung des § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 GrStG beanspruchte, blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) sah die Voraussetzungen einer gemäß § 181 Abs. 1 Satz 1 AO i.V.m. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO wegen Hinterziehung der Grundsteuer auf zehn Jahre verlängerten Feststellungsfrist als erfüllt an. Verantwortliche des Klägers hätten gegenüber dem FA durch Vorlage der Freistellungsbescheinigung unrichtigerweise erklärt, die für die Gemeinnützigkeit erforderlichen Voraussetzungen zu erfüllen, und dadurch Grundsteuer verkürzt. Die subjektiven Voraussetzungen der Steuerhinterziehung lägen vor, weil die Vorstandsmitglieder hinsichtlich der Voraussetzungen der Gemeinnützigkeit ab 1997 eine objektiv falsche steuerrechtliche Beurteilung des FA zumindest billigend in Kauf genommen hätten.

  6. Mit der Revision rügt der Kläger fehlerhafte Anwendung von § 169 Abs. 2 Satz 2 AO und § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO sowie § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 GrStG.

  7. Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung sowie den Einheitswertbescheid vom 12. Dezember 2006 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23. Juli 2007 aufzuheben.

  8. Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

  1. II. Die Revision ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat zutreffend erkannt, dass die Änderungsvoraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO erfüllt waren und dem Kläger eine Grundsteuerbefreiung gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 GrStG nicht zusteht.

  2. 1. Die Rechtsgrundlage für die Änderung der Wert- und Artfortschreibung auf den 1. Januar 1999 ist § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Das FA hat nach Erlass des Einheitswertbescheids vom 7. Mai 1999 und damit "nachträglich" durch die im Jahre 2006 eingegangene Kontrollmitteilung Kenntnis von Tatsachen erlangt, nach denen die zuvor nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. b GrStG grundsteuerbefreiten Räume nicht mehr durch eine inländische Körperschaft, die nach ihrer tatsächlichen Geschäftsführung ausschließlich und unmittelbar gemeinnützigen Zwecken dient, genutzt würden.

  3. 2. Dem angefochtenen Bescheid über die Änderung des Einheitswerts auf den 1. Januar 1999 stand Feststellungsverjährung nicht entgegen.

  4. a) Die Feststellungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, auf dessen Beginn die Fortschreibung des Einheitswerts vorzunehmen ist (§ 181 Abs. 3 Satz 1 AO). Fortschreibungszeitpunkt war hier der 1. Januar 1999. Die Feststellungsfrist begann daher mit Ablauf des Jahres 1999 und endete regulär nach vier Jahren mit Ablauf des Jahres 2003. Im Streitfall verlängerte sich jedoch die Feststellungsfrist wegen Hinterziehung der Grundsteuer auf zehn Jahre (§ 181 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO).

  5. b) Eine Steuerhinterziehung begeht u.a., wer den Finanzbehörden über steuerlich erhebliche Tatsachen unrichtige oder unvollständige Angaben macht und dadurch Steuern verkürzt (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO).

  6. aa) Nach den insoweit nicht angegriffenen Feststellungen des FG haben die Verantwortlichen des Klägers gegenüber dem FA über steuererhebliche Tatsachen unrichtige Angaben gemacht und damit den objektiven Tatbestand einer Steuerhinterziehung durch aktives Tun (§ 370 Abs. 1 Nr. 1 AO) erfüllt. Sie haben durch Vorlage des Freistellungsbescheids für 1994 bis 1996 und der Freistellungsbescheinigung 1999 bis 2001 beim FA erwirkt, dass dieses in der Annahme der ‑‑ab 1997 unstreitig nicht mehr gegebenen‑‑ Gemeinnützigkeit des Klägers die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. b GrStG als erfüllt ansah und demgemäß einen zu niedrigen Einheitswert mit der Folge feststellte, dass Grundsteuer aufgrund des zu niedrig festgestellten Grundsteuermessbetrags verkürzt wurde.

  7. bb) Revisionsrechtlich nicht zu beanstanden ist die Annahme des FG, die subjektiven Voraussetzungen einer Steuerverkürzung seien erfüllt. Ob eine Steuerhinterziehung i.S. des § 370 AO vorliegt, ist im Wesentlichen Tatfrage. Die hierzu getroffenen Feststellungen des FG hinsichtlich des subjektiven Tatbestands können in der Revisionsinstanz grundsätzlich nur darauf überprüft werden, ob der Rechtsbegriff des vorsätzlichen Handelns richtig erkannt wurde und ob die Würdigung der Verhältnisse hinsichtlich dieses individuellen Verschuldens den Denkgesetzen und Erfahrungssätzen entspricht (Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 26. Oktober 1994 II R 84/91, BFH/NV 1995, 476; vgl. auch Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 118 Rz 26). Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass es für ein vorsätzliches Handeln ausreicht, wenn der Täter die Verwirklichung der Merkmale des objektiven Tatbestands zumindest billigend in Kauf nimmt und im Wege einer "Parallelwertung in der Laiensphäre" erkennt (Urteil des Bundesgerichtshofs vom 24. September 1953  5 StR 225/53, BGHSt 4, 347). Entgegen der Auffassung des Klägers bedurfte es insoweit im Zeitpunkt der Vorlage der Freistellungsbescheinigung beim FA keiner positiven Kenntnis seiner Vorstandsmitglieder, dass die Voraussetzungen der Gemeinnützigkeit nicht vorlagen.

  8. Auf dieser Grundlage konnte das FG die festgestellten Tatsachen dahin würdigen, die Verantwortlichen des Klägers hätten bei Vorlage des Freistellungsbescheids und der Freistellungsbescheinigung gegenüber dem FA billigend die Erlangung der Grundsteuerbefreiung in Kauf genommen. An diese Feststellungen ist der BFH gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden. Das Vorbringen des Klägers, die vom FG insoweit getroffenen Feststellungen seien unzureichend, beseitigt diese Bindung nicht.

  9. 3. Die dem FA "nachträglich bekannt gewordenen Tatsachen", die zum Wegfall der Gemeinnützigkeit des Klägers geführt haben, sind im Hinblick auf die ursprüngliche Feststellung des Einheitswerts auf den 1. Januar 1999 auch rechtserheblich. Denn diese hätten bei rechtzeitiger Kenntniserlangung durch das FA zur Feststellung eines höheren Einheitswerts ohne Berücksichtigung einer Grundsteuerbefreiung geführt. Entgegen der Auffassung des Klägers kommt hier neben der aufgrund der tatsächlichen Geschäftsführung ab 1997 entfallenden Grundsteuerbefreiung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 Buchst. b GrStG auch keine solche nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 oder § 4 Nr. 1 GrStG in Betracht. Zur näheren Begründung wird auf die Gründe unter II. 3. des Senatsurteils II R 12/09 (BFHE 230, 93) vom 30. Juni 2010 Bezug genommen.

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