BFH VIII. Senat
AO § 162, FGO § 75, FGO § 76, FGO § 96, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 119 Nr 6, FGO § 155, ZPO § 227
vorgehend FG Münster, 30. Oktober 2007, Az: 8 K 59/06 E,U
Leitsätze
1. NV: Die Grenzen der Zumutbarkeit eines an den Steuerpflichtigen gerichteten Mitwirkungsverlangens sind einzelfallbezogen zu prüfen .
2. NV: Die Beschlagnahme von Geschäftsunterlagen berührt grundsätzlich nicht die Pflicht des Steuerpflichtigen, Steuererklärungen abzugeben; bei Nichterfüllung der Erklärungspflicht darf das FA auch in diesem Fall die Besteuerungsgrundlagen schätzen .
3. NV: Einem Urteil fehlen nicht deshalb die Gründe, weil die Begründung nicht den Erwartungen eines Beteiligten entspricht oder lückenhaft, rechtsfehlerhaft oder nicht überzeugend ist .
4. NV: Die Ausschöpfung von Aktenmaterial zur Sachverhaltsaufklärung schafft keine neuen, vom angefochtenen Verwaltungsakt nicht erfassten Lebenssachverhalte, die bei der Entscheidung des Gerichts unberücksichtigt bleiben müssten .
Tatbestand
I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) war bis … 2005 selbstständig als Rechtsanwalt, Notar und Steuerberater tätig.
Die Beteiligten streiten über die Höhe der von ihm in den Streitjahren (2002 und 2003) erzielten Einkünfte und Umsätze, die der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) schätzte, da der Kläger für die Streitjahre nur Umsatzsteuer-Voranmeldungen für einen Teil der Voranmeldungszeiträume (Monate) beider Jahre abgegeben hatte, aber weder Umsatz- noch Gewinnermittlungen noch die Jahressteuererklärungen.
Einsprüche und Klage blieben erfolglos. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unbegründet ab, da das FA wegen fehlender Mitwirkung des Klägers zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen gemäß § 162 der Abgabenordnung (AO) berechtigt gewesen sei und gegen die Höhe der Schätzungen keine Bedenken bestünden; auf das Urteil des FG wird insoweit Bezug genommen.
Mit seiner dagegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts und Verfahrensmängel.
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde ist nicht begründet; Gründe für die Zulassung der Revision (§ 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) liegen nicht vor.
1. Soweit der Kläger Einwendungen gegen die materielle Richtigkeit des angefochtenen Urteils geltend macht, folgt daraus kein Zulassungsgrund (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs vom 28. April 2003 VIII B 260/02, BFH/NV 2003, 1336; vom 23. Juni 2003 IX B 119/02, BFH/NV 2003, 1289). Dies gilt im Streitfall insbesondere hinsichtlich der Rüge eines vermeintlich fehlerhaften Verständnisses des FG von den Voraussetzungen für eine Schätzung nach § 162 AO.
2. Eine Revisionszulassung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO wegen Divergenz zu der vom Kläger angeführten Entscheidung des FG Saarland vom 16. Januar 1981 I 501-504/78 (juris) ist nicht geboten, weil das vom Kläger angeführte Zitat für jene Entscheidung nicht erheblich war (obiter dictum). Im Übrigen hat auch das FG bei der Prüfung des Umfangs der (grundsätzlich unberührten) Mitwirkungspflichten zur Sachverhaltsaufklärung bei Beschlagnahme steuerlich relevanter Unterlagen im angefochtenen Urteil ‑‑ebenso wie das FG Saarland‑‑ darauf abgestellt, ob dem Steuerpflichtigen die Erklärungsabgabe zumutbar ist. Eine Abweichung in einem das angefochtene Urteil tragenden abstrakten Rechtssatz ist somit gerade nicht zu erkennen. Ob die Grenzen der Zumutbarkeit einer verlangten Mitwirkung erreicht oder überschritten sind, ist jeweils einzelfallbezogen zu prüfen.
3. Die vom Kläger gerügten Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) liegen nicht vor.
a) Indem der Kläger rügt, dass seinem Vertagungsantrag im Termin vom 30. Oktober 2007 nicht entsprochen worden sei, macht er inzidenter als Verfahrensmangel die Verletzung rechtlichen Gehörs geltend. Diese Rüge hat schon deshalb keinen Erfolg, weil der Kläger ausweislich des Protokolls der mündlichen Verhandlung keine erheblichen Gründe i.S. von § 155 FGO i.V.m. § 227 der Zivilprozessordnung vorgetragen hat; neuer Tatsachenvortrag im Beschwerdeverfahren, wie die nunmehr vorgetragenen gesundheitlichen Gründe, muss dabei unberücksichtigt bleiben.
b) Keinen Erfolg hat die Rüge, die Finanzgerichte des Landes Nordrhein-Westfalen seien wegen Mitwirkung ehemaliger Finanzbeamter als Richter fehlerhaft besetzt und nicht als unabhängige und unparteiische Gerichte i.S. von Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention anzusehen. Hierzu wird auf den in Sachen des Klägers ergangenen Beschluss des Senats vom 18. November 2009 VIII B 16/08 Bezug genommen.
c) Die Rüge fehlender rechtlicher und tatsächlicher Erörterung der Streitsache i.S. von § 93 FGO geht ausweislich des Sitzungsprotokolls der mündlichen Verhandlung (dort insbesondere Seiten 2 und 3) fehl. Sollte die Rüge auf eine nach Ansicht des Klägers nur ungenügende Erörterung zielen, ist der Kläger mit der Geltendmachung eines derartigen Mangels im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde ausgeschlossen, weil er ihn in der mündlichen Verhandlung nicht gerügt hat (Seer in Tipke/ Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 115 FGO Rz 94, m.w.N.).
d) Die Rüge des Klägers, das FG habe es an einer Mitteilung "der Besteuerungsgrundlagen" gemäß § 75 FGO fehlen lassen, ist unsubstantiiert. Der Kläger hat im vorliegenden Beschwerdeverfahren in keiner Weise konkretisiert, welche Unterlagen der Besteuerung ihm nicht mitgeteilt worden wären. Im Übrigen ist ein Verstoß des FG gegen § 75 FGO nicht festzustellen. Dem Kläger ist im Laufe des Verfahrens mehrfach Gelegenheit gegeben worden, Einsicht in die auch im erstinstanzlichen Verfahren beigezogenen Steuerakten und Unterlagen zu nehmen, die antragsgemäß an das Amtsgericht (AG) X-Stadt übersandt wurden und dann noch einmal beim FG hätten eingesehen werden können. Nach dem Verlauf des Verfahrens musste der Kläger damit rechnen, dass das FG bei seiner Entscheidung auf diese beigezogenen Akten und Unterlagen zurückgreifen würde.
Darüber hinaus ist auch zu berücksichtigen, dass im Schätzungsfalle wegen Nichtabgabe von Steuererklärungen die konkret zu Grunde gelegten Besteuerungsgrundlagen insbesondere auch auf Schlussfolgerungen ‑‑und insoweit nicht auf Unterlagen‑‑ beruhen, wobei nach dem Inhalt der Einspruchsentscheidung dem Kläger die vorgenommenen Schätzungen im Anschluss an das Ergehen der angefochtenen Steuerbescheide in einem gesonderten Schreiben "nochmals erläutert" worden waren.
e) Die Beschlagnahme der Geschäftsunterlagen für die Streitjahre berührt grundsätzlich nicht die Erklärungspflicht des Klägers, deren Nichterfüllung deshalb die Schätzungsbefugnis des FA eröffnet.
Soweit der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren ausweislich des Akteninhalts vorgetragen hatte, dass ihm beschlagnahmte Unterlagen nicht oder nicht vollständig herausgegeben worden und ihm Kopien trotz Antrags nicht zur Verfügung gestellt worden seien, ist die Rüge, dass es dem angefochtenen Urteil insoweit an Gründen fehle und damit ein Verfahrensfehler i.S. von § 119 Nr. 6 FGO vorliege, nicht nachvollziehbar. Vielmehr hat sich das FG mit diesem Vortrag auf den Seiten 12 bis 15 des angefochtenen Urteils eingehend auseinandergesetzt. Einem Urteil fehlt es nicht deshalb an Gründen, weil die Begründung nicht den Erwartungen eines Beteiligten entspricht oder lückenhaft, rechtsfehlerhaft oder nicht überzeugend ist (Gräber/ Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 119 Rz 24, m.w.N.).
f) Vom Kläger geltend gemachte Verfahrensfehler der Finanzverwaltung (wie die behauptete mangelnde Erfüllung von Hinweispflichten i.S. von § 89 AO oder fehlende Anhörung nach § 91 AO) sind keine Verfahrensfehler i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO, der nur Verstöße des FG gegen Vorschriften des Gerichtsverfahrensrechts betrifft (Gräber/Ruban, a.a.O., § 115 Rz 76, m.w.N.).
g) Mit der Ansicht, das FG habe über Steuerverwaltungsakte und damit nur über abgeschlossene Sachverhalte zu befinden, weshalb sich die Frage stelle, ob ein nachträglich eingetretener Sachverhalt ‑‑nämlich die nicht erfolgte Akteneinsicht des Klägers in beigezogene Akten des AG aus dem Strafverfahren gegen den Kläger‑‑ im Finanzgerichtsprozess überhaupt berücksichtigungsfähig sei, wird kein Zulassungsgrund geltend gemacht. Insbesondere liegt kein Verfahrensfehler vor, wenn das FG in Erfüllung seiner Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung (§ 76 FGO) und vor dem Hintergrund eigener Schätzungsbefugnis nach §§ 96 FGO i.V.m. 162 AO Unterlagen beizieht, die Einblicke in die der Besteuerung zu unterwerfenden Sachverhalte vermitteln können. Es geht insoweit also nicht um die Schaffung neuer entscheidungserheblicher Sachverhalte, sondern um die Ausschöpfung von Beweismitteln. Nicht zu beanstanden ist, dass das FG in diesem Zusammenhang die fortdauernde Nichterfüllung von Steuererklärungspflichten durch den Kläger festgestellt hat.
h) Mit der Rüge, das FG habe die beigezogenen Akten zu Unrecht an das AG zurückgesandt bevor noch die Möglichkeit der Akteneinsicht zwecks Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde bestanden habe, wird kein Verfahrensmangel geltend gemacht, auf dem das angefochtene Urteil beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
i) Keinen Erfolg hat die Rüge, das FG habe der gesetzlichen Hinweispflicht im Hinblick auf die vom Kläger im Klageschriftsatz vom 28. November 2005 "durchaus" aufgeworfene Frage, wie denn die vom FG postulierte Mitwirkungsverpflichtung aussehen solle, nicht genügt. Zum einen hat der Kläger diese Frage dort nicht dezidiert gestellt, zum anderen ist die Hinweis- und Fürsorgepflicht des FG bei fachkundigen und fachkundig vertretenen Beteiligten eingeschränkt (vgl. Gräber/Stapperfend, a.a.O., § 76 Rz 55). Hier war das FG nicht gehalten, den Kläger hinsichtlich der Einzelheiten der Vorgehensweise bei der Erfüllung seiner steuerlichen Erklärungspflichten rechtlich zu beraten (vgl. Gräber/Stapperfend, a.a.O., § 76 Rz 56).