BFH VIII. Senat
FGO § 115 Abs 2 Nr 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 2 Alt 1, AO § 127
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 17. März 2009, Az: 4 K 91/07
Leitsätze
1. NV: Ob und in welchem Umfang sich das Finanzamt auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufen kann, hängt - wie im umgekehrten Fall, dass sich der Steuerpflichtige auf Treu und Glauben beruft - von den tatsächlichen Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab und wirft keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung auf.
2. NV: Es ist höchstrichterlich geklärt, dass § 127 AO auf Ermessensentscheidungen grundsätzlich nicht anwendbar ist.
Gründe
Die Beschwerde ist nicht begründet. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
1. Die vom Beklagten und Beschwerdeführer (Finanzamt ‑‑FA‑‑) als grundsätzlich bedeutsam herausgestellte Frage, "ob Steuerpflichtige, welche über Jahre hinweg in ihren Einkommensteuererklärungen ihren Wohnsitz im Finanzamtsbezirk eines (unzuständigen) Finanzamts angeben, ihre Steuerklärungen dort auch abgeben und dort veranlagt werden, nach Treu und Glauben daran gehindert sind, im Klageverfahren gegen eine Ermessensentscheidung dieses Finanzamts die örtliche Unzuständigkeit geltend zu machen, wenn beim Erlass der Ermessensentscheidung keine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten und keine Anhaltspunkte für einen Zuständigkeitswechsel der Finanzämter gegeben waren", hat keine grundsätzliche Bedeutung.
Ob und in welchem Umfang sich ein Steuerpflichtiger gegenüber der Finanzbehörde auf den Grundsatz von Treu und Glauben berufen kann, richtet sich nach den tatsächlichen Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls, so dass die Beurteilung nicht über den konkreten Fall hinausreicht und daher einer Verallgemeinerung nicht zugänglich ist (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 12. Februar 2009 VII B 82/08, BFH/NV 2009, 970). Nichts anderes gilt für den umgekehrten Fall, dass sich die Finanzbehörde auf ein angeblich treuwidriges Verhalten des Steuerpflichtigen beruft. Auch in diesem Fall hängt die Entscheidung von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Eine grundsätzliche Bedeutung ist dann im Regelfall nicht anzunehmen (vgl. BFH-Beschluss vom 6. November 2008 XI B 172/07, BFH/NV 2009, 617).
2. Die vom FA gerügte Divergenz liegt nicht vor. Das Urteil des Finanzgerichts (FG) weicht nicht von dem Urteil des BFH vom 17. Juni 1992 X R 47/88 (BFHE 169, 103, BStBl II 1993, 174) ab. Soweit das FA meint, dem BFH-Urteil lasse sich der Rechtssatz entnehmen, "dass es zu einem mit den Grundsätzen von Treu und Glauben schlechthin unvereinbaren Ergebnis führt, wenn sich ein Steuerpflichtiger auf eine von ihm mitverursachte und bislang von ihm akzeptierte fehlerhafte Besteuerung durch das Finanzamt erst zu einem Zeitpunkt beruft, zu dem der Fehler nicht mehr korrigiert werden kann", trifft das nicht zu. Der BFH hat sich in der zitierten Entscheidung nur mit der Frage befasst, ob sich die dortigen Kläger auf die Nichtigkeit von Steuerbescheiden berufen durften, obwohl sie die zugrunde liegenden Adressierungsmängel hingenommen und mitverursacht hatten. Er hat dies unter den besonderen Umständen des dortigen Falles verneint und ausgeführt, dass die Berufung auf die Nichtigkeit zu einem schlechthin untragbaren Ergebnis führen würde. Daraus ergeben sich indes keine verallgemeinerungsfähigen Grundsätze, von denen das FG mit seinem Urteil abweichen könnte.
3. Ein Verfahrensmangel ist nicht dargelegt worden (§ 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat für die Feststellung der örtlichen Zuständigkeit des FA auf den Zeitpunkt des Verwaltungshandelns, also den Erlass der streitigen Außenprüfungsanordnung am 11. Dezember 2006, abgestellt. Für diesen Zeitpunkt hat es die örtliche Zuständigkeit des FA verneint, weil die Kläger und Beschwerdegegner ihren Familienwohnsitz seit 1984 im Bezirk eines anderen Finanzamts gehabt hätten und sich daran nichts geändert habe. Soweit das FA in diesem Zusammenhang rügt, das FG habe seine Erkenntnisse auf Tatsachen gestützt, die nicht das Jahr 2006, sondern frühere Zeiträume betreffen, rügt es keinen Verfahrensfehler, sondern die seines Erachtens fehlerhafte Würdigung von Tatsachen und Beweisen. Darauf kann die Zulassung der Revision jedoch im Regelfall nicht gestützt werden.
4. Das FA hat auch nicht dargelegt, dass die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des BFH erfordert. Die Fortbildung des Rechts (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alternative FGO) ist erforderlich, wenn über eine bisher ungeklärte Rechtsfrage zu entscheiden ist; insbesondere dann, wenn der Einzelfall im allgemeinen Interesse Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen (BFH-Beschluss vom 17. Oktober 2001 III B 65/01, BFH/NV 2002, 217; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 115 Rz 41, m.w.N.). Eine schlüssige Darlegung dieses Revisionsgrundes erfordert neben der Angabe der betreffenden abstrakten Rechtsfrage Ausführungen zur Klärungsbedürftigkeit und Klärungsfähigkeit der Rechtsfrage im konkreten Rechtsstreit. Hierzu lassen sich der Beschwerdebegründung indes keine Ausführungen entnehmen. Das FA meint lediglich, beim Erlass einer Prüfungsanordnung durch ein örtlich unzuständiges Finanzamt solle zur Vermeidung eines "Knockouts" für die materielle Gerechtigkeit § 127 der Abgabenordnung (AO) Anwendung finden. Der BFH hat indes wiederholt entschieden, dass § 127 AO auf Ermessensentscheidungen grundsätzlich nicht anwendbar ist (vgl. BFH-Urteile vom 25. Januar 1989 X R 158/87, BFHE 156, 18, BStBl II 1989, 483, und vom 15. Oktober 1998 V R 77/97, BFH/NV 1999, 585). Die Beschwerde zeigt keine Gründe auf, die Veranlassung geben könnten, diese Rechtsprechung einer Revision zu unterziehen. Auch aus dem BFH-Beschluss vom 16. Dezember 2003 IV B 69/02 (BFH/NV 2004, 608) ergibt sich nichts anderes. Der BFH hat sich in dem Beschluss mit der Anwendbarkeit des § 127 AO auf Ermessensentscheidungen nicht auseinandergesetzt, weil er die örtliche Zuständigkeit des Finanzamts zum Erlass der Prüfungsanordnung bejaht hat.